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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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Linoleum hinaus. In der Tür drehte er sich um und sah Jamie bittend an. Er wollte seinen alten Herrn zurückhaben.
    »Na, lauf schon«, sagte Jamie und scheuchte Shep hinaus, dann hievte er sich aus dem Bett. »Ich bin ja gleich da.«
    Eine Stunde später saß Jamie in Dr. Brewsters Wartezimmer. Außer ihm wartete nur eine Mutter mit einem Baby im Kinderwagen. Die junge Frau sah genauso müde und deprimiert wie Jamie aus, auch wenn ersich vorstellen konnte, dass sie andere Gründe dafür hatte. Das Kind kreischte jedes Mal los, wenn das Telefon klingelte, und sein Geheul ließ erst nach, wenn die Sprechstundenhilfe auflegte.
    Das Baby erinnerte Jamie an eine schlimme Zeit, es zwang ihn, durch die Zeit hindurch auf sich zu sehen, als er klein gewesen war. Eine Zeit, an die er nicht denken wollte. Doch dieses schreiende Kind hatte eine Mutter, die es versorgte. Er hatte niemanden. Die ganze Wut, die er auf seine gesichtslose Mutter hatte, kam zurück. Ihretwegen war er jetzt in diesem beklagenswerten Zustand. Auf einmal wollte er die auf und ab gehende junge Frau schlagen. Sie trug das Baby herum, um es zu beruhigen. Er wollte sie schlagen und alles, wofür sie stand, für all die Jahre, in denen er gelitten hatte, für die Prügel, die er von den Frauen in Schwarz bekommen hatte, für die Unschuld, die ihm die Männer geraubt hatten. Aber Jamie wusste, dass er seine Wut nie zum Ausdruck bringen konnte, und so tat er das Einzige, was er konnte. Er senkte den Kopf, starrte auf den Boden und weinte innerlich.
    »Gut, Sie zu sehen, James.« Dr. Brewster saß wie gewöhnlich hinter seinem Schreibtisch und sah ihn über seine Gleitsichtbrille hinweg an. »Wie geht es Ihnen? Was ist mit dem Ischias?«
    Jamie setzte sich kleinlaut und nahm die Kappe ab. Er war unsicher, was er sagen sollte.
    »Ach, dem Rücken geht’s gut, aber es is ...« Er starrte nach unten, verdrehte die Kappe und konnte den Satz nicht beenden.
    Der Arzt schob die Brille hoch und beugte sich vor. »Sie sehen nicht gut aus, James.« Jamies Gewichtsabnahme beunruhigte ihn, und nicht nur das, sein Patient schien auch unter einer merkwürdigen Kopfhautinfektion zu leiden.
    »Ich kann nichts essen und auch nich schlafen, Doktor, ich hab an nichts Interesse.«
    »Hört sich an, als sei die Depression zurück.«
    Er sah in seine Aufzeichnungen. Mr McCloone hatte sich seit Wochen kein Valium mehr verschreiben lassen.
    »Und das ist auch kein Wunder, denn ich sehe hier, dass Sie Ihre Medi kamente nicht mehr nehmen.«
    »Ich dachte, ich bräuchte sie nich mehr, Doktor.«
    »Ach James, wie oft haben wir diese Unterhaltung schon geführt? Sie dürfen Ihre Medikamente doch nur mit meiner Einwilligung absetzen. Es ist gefährlich, wenn Sie es auf eigene Faust tun.«
    »Ja, ich weiß.« Jamie starrte immer noch auf seine Hände. Er schaffte es nicht, dem Arzt den wahren Grund für seinen schlechten Zustand zu nennen.
    »Haben Sie die Ferien am Meer gemacht, die ich Ihnen empfohlen hatte?«
    Der Arzt erinnerte sich daran, dass Gladys Millman ihn dafür getadelt hatte, Leuten wie James McCloone das Ocean Spray zu empfehlen. Er hatte zurückgegeben, dass James’ Geld so gut wie das anderer Leute sei, und wegen dieses Kommentars hatte Gladys stundenlang geschmollt, was ihm wiederum nicht das Geringste ausgemacht hatte, denn so hatte er fast den ganzen Nachmittag ungestört Golf sehen können.
    »O ja, Doktor! Es war toll im Ocean Spray.« Als er an die beiden sorglosen Tage dachte, hellte sich seine Stimmung auf. »So ein feines Haus.«
    Dr. Brewster lehnte sich in seinen Lederstuhl zurück und nahm die Brille ab.
    »Wissen Sie, James, es wäre vielleicht nicht verkehrt, noch einmal Ferien zu machen. Und dieses Mal länger zu bleiben, eine Woche oder so.«
    »Ach nein, das kann ich im Moment nich. Es is nich so gut, wenn man immer allein ist.«
    Jamie seufzte. Er sah am Arzt vorbei auf die sonnige Hauptstraße hinaus. Es schien keine Trennung zu geben zwischen dem Jungen, der er einmal gewesen war, und dem Mann, der er jetzt war. Er war wieder in Keaneys Zimmer und starrte durchs Fenster auf die windgepeitschten Lorbeerbüsche des Friedhofs. Und saß wieder in Mutter Vincents Büro und sah zu, wie sich eine kleine Schneeverwehung auf dem Fensterbrett hinter ihrer Schulter ansammelte.
    Jamie schien es, als habe er seit dieser Zeit gar keine Entwicklung durchgemacht. Vielleicht hatte sich die Szene hinter der Fensterscheibe verändert, vielleicht hatten sich die Umstände

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