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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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Auswirkung der Vernachlässigung ihrer Pflicht – sich mit dem albernen Mann in diesem albernen Hotel zu treffen und Zeit zu vergeuden, statt bei ihrer Mutter zu wachen – überkam sie jetzt mit ganzer Wucht. Selbstbezichtigungen und Tadel hagelten auf sie herab; sie wurde von Schuldgefühlen übermannt. Wie hatte sie sich nur so idiotisch und selbstsüchtig verhalten können?
    Und so weinte und weinte sie, löste sich von der Krankenschwester und von der ganzen Welt und trieb weiter und weiter ab – sie war nur noch ein losgelöster Ballon in einer unermesslichen grauen Leere, der höher und höher stieg. Sie hörte die Geräusche des Krankenhauses und der Welt hinter dem Fenster von all den Leben, die dort wie zufällig gelebt wurden, und in diesen angsterfüllten, hilflosen Augenblicken wusste sie, dass sie einen Wendepunkt erreicht hatte. Einen Punkt, der nur von dem Wissen erhellt wurde, dass sie ihn nur ein einziges Mal erreichen würde, so schmerzhaft das alles auch war. Der Verlust der Mutter ist ein einzigartiges und mit nichts zu vergleichendes Ereignis. Diese Erkenntnis verschaffte ihr eine kleine Erleichterung.
    Sie wusste nicht, wie lange sie in dem leeren Zimmer mit der gleichgültigen Krankenschwester gesessen und geweint hatte, und ab wann sie vollkommen ausgefallen war.
    Alle späteren Versuche, sich an die Ereignisse zwischen dem Tod ihrer Mutter und dem Begräbnis zu erinnern, waren, als sehe sie sie durch eine Scheibe im grellen Sonnenlicht; sie waren zwar von einer blendend hellen Wirklichkeit, blieben zugleich aber verschwommen und unverstanden. Vielleicht war es das Beste so. Sie war dankbar für den Trost durch diesen Gedächtnisverlust.
    Vikar Spencer, der junge Nachfolger ihres Vaters, hielt den Trauergottesdienst. Er war ein großer dünner Mann, bei dem sie an einen Ast in einem reißenden Fluss denken musste, und der an der Kleidung ebenso schwer zu tragen schien wie an seinem feierlichen Amt.
    Lydia und Gladys saßen in der ersten Reihe. Vor ihnen lag Elizabeth – Ehefrau, Schwester, Mutter –, deren irdische Verbindungen in dem letzten Bild, in diesem Mahagonisarg zur Ruhe kamen.
    Um sie herum hatten sich Mrs Devines alte Freundinnen mit ihren tränenreichen Erinnerungen geschart und stimmten mit brüchigen Stimmen in die Kirchenlieder ein. Ihre Gesichtszüge waren unter der Gewissheit abgesackt, dass auch ihnen nicht mehr viel Zeit blieb.
    Lydia und Gladys standen Arm in Arm am Grab. Durch ihre Tränen hindurch sahen sie den Regen auf den Sarg fallen, als er langsam in die Grube gesenkt wurde.
    Es war passend, dass die Sonne nicht schien, die Vögel nicht zwitscherten und der helle Augustnachmittag einem winterlich unheilvollen Grau gewichen war. Selbst Gott schien Mitleid zu haben. Warum sollte ein Tag lächeln, an dem so viel Kummer ertragen werden musste.
    Gladys bestand darauf, nach dem Begräbnis eine Woche bei Lydia in Elmwood zu verbringen. Auch wenn ihre Nichte es vorgezogen hätte, sich der unvermeidbaren Einsamkeit der neuen Situation so bald wie möglich alleine auszusetzen, wusste sie doch, dass es äußerst unhöflich gewesen wäre, diese Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Alle Versuche der Menschen, die es gut mit ihr meinten – Daphne mit ihren Einladungen zum Mittagessen, Beatrice Bohillys Angebot, ihr bei der Entsorgungder Kleider ihrer Mutter zu helfen, die Trostworte des jungen Vikars – führten ihr vor Augen, dass sie wahre Freunde hatte. Vielleicht konnte die Leere, die durch den Tod ihrer Mutter entstanden war, ihr die Tür zu einem weniger angstbesetzten Leben aufstoßen, in dem sie frei war, sie selbst zu sein – und nicht nur Beiwerk, nicht nur Gehilfin. War das nicht das, wonach sie sich immer gesehnt hatte?
    »Vielleicht solltest du dir Urlaub von der Schule nehmen, liebe Lily.«
    Gladys saß in Elizabeths Lieblingssessel im Wohnzimmer mit den chintzbezogenen Möbeln, ein Glas Gin Tonic – ihren Schlaftrunk – auf einem Tischchen in Reichweite.
    Sie sah aus wie eine wollüstige Konkubine im Palast eines Shoguns: Auf ihrem roten Kimono glänzten kupferfarbene Drachen und goldene Schlangen. Auf ihren zarten Pantoletten tanzten Pfauenfedern. Lydia konnte den Blick kaum von ihnen abwenden, als ihre Tante mit ihr sprach.
    »Nimm dir Urlaub«, sagte sie noch einmal. »Sie können bestimmt Ersatz für ein, zwei Wochen finden, bis du wieder auf den Beinen bist.«
    »Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Bei der Arbeit komme ich auf andere

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