Der übersehene Mann: Roman
Tasche, setzte sich auf eine der Toilettenschüsseln und wartete ab, welche Lösung Rose bei all ihrer Lebensklugheit für sein riesiges Problem parat hatte.
Lydia sah auf die Uhr. James war schon vor rund zwanzig Minuten zur Toilette gegangen und langsam kam ihr das merkwürdig vor. Die Fotografen hatten sich in einem abgetrennten Bereich mit Sandwiches niedergelassen. Immer wenn Lydia in ihre Richtung sah, funkelte McPrunty sie hinter seiner Gleitsichtbrille drohend an. Sie tat, als lese sie die
Times
.
Was konnte James um Himmels willen denn nur zugestoßen sein? Sie würde seine Freunde ansprechen und den Mann bitten, nach ihm zu sehen.
Sie legte die Zeitung zusammen und stand auf, da entdeckte sie, dass seine Freunde auch verschwunden waren.
»Hallo, Miss Devine!« Sie schreckte zusammen, doch als sie sich umwandte, sah sie sich einer Frau mit ausgestreckter Hand gegenüber. »Ich bin Jamies, ich meine James’ Freundin. Rose McFadden mein Name.«
Lydia erinnerte sich. »Oh, Rose! Nett, Sie kennenzulernen. Ist etwas passiert? Geht es James gut?«
»Nein, also, Miss Devine ...«
»Bitte nennen Sie mich Lydia.« Sie sah sie bang an. »Bitte setzen Sie sich doch.«
»Vielen Dank, Lydeea. Danke der Aufforderung.«
Rose machte es sich auf Jamies Stuhl bequem, die Handtasche setzte sie auf den Knien ab.
Sie hatte sich zu dieser besonderen Gelegenheit sorgfältig angezogen. Lydia konnte es nicht ahnen, aber Rose hatte das Polyesterkleid mit kundiger Hand eigens schräg geschnitten und ihre Zopfmusterjacke – bei der sie ihr Geschick im Anfertigen von Häschenbommeln und im Patentstrick herausstellen konnte – hatte 1972 den ersten Preis des Dunty butt Women’s Institute beim kreativen Weihnachtswettbewerb in der Kategorie Damenstricksachen gewonnen. Sie hatte sich eine neue Dauerwelle im Curl-Up-’n’Dye-Salon machen lassen und nun standen ihr Myria den winzig kleiner zimtfarbener Löckchen vom Kopf ab. Außerdem hatte sie sich mit Almond Surprise von Yardley frisch eingepudert. Am Handgelenk klimperten dreiundzwanzig Glücksbringer, von denen jeder Einzelne für ein weiteres, erfolgreich überstandenes Ehejahr stand.
»Sie müssen sich keine Sorgen machen, Lydeea«, sagte sie freundlich. »James hat ein kleines Problem auf der Herrentoilette und er braucht eine Weile. Falls Sie verstehen, was ich meine.«
»Nein, eigentlich nicht, Rose. Ist ihm übel?« Lydia richtete sich auf. »Ich habe Erfahrung mit Erster Hilfe. Vielleicht könnte ich ihm helfen?«
Darauf war Rose nicht vorbereitet. Sie hatte Jamie nur versprochen, dass sie »sich um alles kümmern« würde. Sie hatte ihm versichert, dass es die beste Strategie sei, Lydia zu erzählen, er sei krank geworden, aber jetzt sah sie, dass Miss Devine sich richtige Sorgen machte und genau wissen wollte, was los war. Rose musste sich schnell etwas ausdenken und das war etwas, woran sie, genau wie ihr Ehemann, gar nicht gewöhnt war. Deswegen sagte sie das Erstbeste, was ihr in den Kopf kam.
»Tja, wissen Sie, Lydeea, Gott segne und schütze uns, aber so schlimm isses auch wieder nich. Er hat einfach nur ein Problem.« Sie sah auf ihren Schoß herab. »Da unten.«
Lydia starrte sie immer noch verwundert an.
»Ein Herrenproblem«, führte Rose flüsternd aus. »Manchmal braucht er eine oder sogar zwei Stunden.«
Lydia wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Da Rose das Schweigen unterbrechen wollte, beging sie die Todsünde aller unerfahrenen Lügner:Sie breitete einen großen Teppich anekdotischer »Fakten« aus, damit ihre Lüge plausibler erschien.
»Is ’ne Familienkrankheit, Lydeea. Sein Onkel war genauso, und Sie kennen ja das Sprichwort ›Der Apfel fällt nicht weit vom Mann‹. Also meine Mutter, Gott sei ihrer Seele gnädig, war da ganz anders: In der einen Woche klappte alles, in der nächsten ging gar nichts mehr. Wahrscheinlich die Nerven. Sie hatte eine nervöse Depposition oder wie man das nennt. Keine große Esserin, pickte sich hier mal was raus, da mal was, so Rosinen ausm Kuchen, mehr die Art. Und wenn man nich richtig isst, das ist gar nich gut für einen, und James – Gott hilf uns – war auf Diät wegen, weil er Sie doch treffen wollte.«
Rose lehnte sich zurück, erleichtert, dass sie die peinliche Nachricht überbracht hatte.
»Es tut mir sehr leid, Rose.«
»Und glauben Sie mir, wie leid es James erst mal tut, dass er ausgerechnet jetzt nich herauskommen kann.« Sie lehnte sich wieder vor und umklammerte ihre
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