Der übersehene Mann: Roman
darüber, sondern waren beide für sich zu der Ansicht gelangt, dass es besser wäre, die Dinge ruhen zu lassen.
Elizabeths Tod hatte die Spielregeln verändert und Lydia begriff, dass sie ihre Tante gar nicht mehr brauchte. Sie, Lydia, hielt jetzt die Fäden in der Hand, und sie würde ihr Leben nach ihren eigenen Maßstäben leben. Siehatte sich ihrer Mutter aus Pflichtgefühl untergeordnet, aber jetzt würde sie sich niemandem mehr unterordnen. Tante Gladys war überflüssig, vielleicht gerade noch am anderen Ende des Telefons auszuhalten.
Als sie sie an dem Morgen zum Abschied küsste, wusste sie, dass sie es erst mal genauso halten würde, und Gladys spürte deutlich, dass Ihr Trost und ihre Unterstützung nicht mehr benötigt wurden.
Lydia wandte sich zum leeren Haus um und schloss die Tür hinter sich.
Sie blieb im Flur stehen, bis sie Gladys’ Auto nicht mehr hörte. Dann senkte sich die Stille herab und das Haus wirkte auf sie, als sei sie die einzige Überlebende einer nuklearen Katastrophe. Zum ersten Mal verstand sie wirklich, wie es sich anfühlte, allein zu sein, sich ganz auf sein ureigenes Selbst verlassen zu müssen. Elmwood würde ihr in den nächsten Tagen nur wenig Trost spenden können.
Sie stand eine Weile einfach nur da und sammelte Kräfte, dann wanderte sie durch ihr »mutterloses« Heim, ging von Zimmer zu Zimmer und nahm all ihren Mut zusammen. Ihr war, als sei sie durch einen dunklen Tunnel plötzlich an diesen fremden, trostlosen Ort gelangt, an dem sich noch schemenhaft die Umrisse einer Abwesenheit abzeichneten, an dem jedoch eine übernatürliche Anwesenheit schimmerte: die ihrer verstorbenen Mutter.
Im Wohnzimmer rang sie mit Erinnerungsstücken an Elizabeth: mit dem unfertigen Pullover in der Teppichtasche, dem angefangenen Roman auf dem Fensterbrett, den rot umrandeten Sendungen im Fernsehprogramm, die sie an ihrem letzten Fernsehabend gesehen hatte.
Wieder musste Lydia weinen. Sie verstand, dass man gegen Trauer nicht ankämpfen konnte, sondern dass man sie durchleben musste. Irgend wann wäre sie vorbei, aber wie in einer griechischen Tragödie geschähe das erst, wenn die Götter es wollten.
Sie setzte sich auf den Stuhl ihrer Mutter und sah traurig auf den gestrickten Pullover. Sie wollte ihn gerade in die Hand nehmen, da klingelte das Telefon. Sie atmete tief ein und sprach mit ruhiger Stimme in den Hörer.
»Guten Morgen.«
»Miss Devine? Lydia Devine?« Der Mann sprach knapp und geschäftsmäßig.
»Ja. Wer spricht da?«
»Hier ist Charles Brown von Brown und Kane. Ich bin der Anwalt Ihrer Mutter. Mein herzliches Beileid.«
»Danke, Mr Brown.«
»Das kam doch gänzlich unerwartet? Ihre Mutter war wirklich eine feine Dame. Es ist sehr schade.«
Lydia wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, und so dankte sie ihm noch einmal und wartete darauf, dass er sein Anliegen vortrug.
»Vielleicht wären Sie so freundlich, uns einen Besuch abzustatten, Miss Devine. Ich bin der Testamentsvollstrecker Ihrer Mutter. Es ist recht überschaubar. Natürlich will ich Sie nicht unter Druck setzen, aber meiner Erfahrung nach ist es oft das Beste, diese Dinge so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.«
»Ja, bestimmt. Ich komme, wann es Ihnen passt, Mr Brown«, hörte Lydia sich sagen.
»Famos. Sagen wir Freitag um halb vier?«
»Ja, gerne.« Sie kritzelte den Termin auf einen Zettel.
»Gut, meine Sekretärin wird Ihnen die Bestätigung mit der Post zukommen lassen.«
»Vielen Dank, Mr Brown.« Lydia wollte gerade einhängen.
»Oh, da ist noch etwas, Miss Devine.« Der Anwalt zögerte. »Außer dem Testament liegt hier noch ein Brief für Sie.«
»Ein Brief von wem?« Lydia war plötzlich beunruhigt.
»Ihre Mutter hat ihn mir vor einiger Zeit übergeben und mich angewiesen, dass er Ihnen erst nach ihrem Tod überreicht werden darf.«
»Oh, ... ich verstehe.«
»Wir sehen uns dann am Freitag. Auf Wiedersehen, Miss Devine.«
Dann war die Leitung tot und Lydia stand mit dem inneren Bild ihrer Mutter und dem angekündigten geheimnisvollen Brief im widerhallenden Flur und fragte sich, was die Zukunft für sie bereithalten würde.
30
Jamie lag in seinem zerwühlten Bett. Neben ihm saß Paddy und zu dessen Füßen sah Shep hoffnungsvoll zu seinem Herrn auf.
»Dieser kleine Hund da, das ist mein einziger Freund, Paddy.« Jamie stützte sich auf einen Ellenbogen und sah Shep liebevoll an. »Dieser kleine Hund, du und Rose.«
»Ach weißte, Jamie, ich und Rose helfen
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