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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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stimmt, und wenn es hart auf hart kommt, kaufen wir dir eben noch ’ne neue Kappe.«
    »Haare hin, Haare her«, fuhr sie fort, »du bist ein Geschenk für jede Frau, Jamie. Wie meine Großtante Brigid – Gott sei ihrer Seele gnädig – immer gesagt hat, und ich bin sicher, sie is langsam aus’m Fegefeuer raus, denn weißte, sie konnte fürchterlich knatschig sein, wie ein Wiesel mit Zahnschmerzen, Gott vergib mir, aber sie is schon so lange tot, dass sie jetzt wirklich schon im Himmel sein müsste. Na, ich komme ab, aber was sie immer gesagt hat, is, alles, was ein Mann braucht, is ein sauberes Hemd, ein gutes Gewissen und ein, zwei Pfund inner Tasche. Und Gott schütze uns, Jamie, aber hast du nich alles drei? Und is es nich nur die Frau, die dir fehlt?« Rose nahm einen Schluck Tee. »Das haben wir bald, Jamie. Hast du denn die Telefonnummer hier bei dir?«
    Jamie zog sein Portemonnaie aus der Tasche und gab es ihr.
    »Sie ist irgendwo da drin, Rose. Aber ich möchte nich, dass du sie jetzt anrufst.«
    Statt einer Antwort bekam er noch eine Kokosmakrone von Rose.
    »Nein, Jamie«, sagte sie zufrieden, weil er sich hungrig über ihr Gebäck hermachte. »Ich kann dich gut verstehen. Ich ruf sie morgen oder übermorgen an, wenn’s dir recht is, ja?«
    »Na gut«, seufzte Jamie.
    Rose fand Lydias Telefonnummer in Jamies Portemonnaie neben einem fadenscheinigen Leinentuch, das mit ausgeblichenen Kleeblättern gesäumt war. Sie fragte sich, was es damit wohl für eine Bewandtnis hatte, wollte aber nicht neugierig erscheinen.
    »Und jetzt trink deinen Tee, Jamie, und dann essen wir Abendbrot.« Sie schlug ihm freundschaftlich auf die Oberschenkel. »Du bist nich im Zustand nach Hause zu gehen, und deswegen bleibst du bei uns. Ich mach dir das Gästezimmer fertig und ich will kein ›Nein‹ von dir hören. Und noch was, Jamie, wenn du Hilfe brauchst, dann weißt du doch, wo du sie finden kannst, oder?«
    Sie klatschte ihm die Hände auf die Schenkel.
    »Hier, genau hier: bei mir und meim Paddy.«
    Jamie trocknete seine Tränen und Rose stand auf und stellte die Pfanne wieder an.
    Als die Bratgerüche das Zimmer durchströmten, hob sich auch Jamies Stimmung. Rose und Paddy sorgten sich um ihn und ihm wurde warm ums Herz wie selten in seinem Leben. Sie waren es, die ihn vor der grässlichen Dunkelheit bewahrten, die ihn zu überwältigen drohte.

31
    Sechsundachtzig saß auf einer Holzbank vor Mutter Vincents Büro und wartete darauf, hineingerufen zu werden. Das adoptionswillige Paar wollte sich mit fünf Jungen unterhalten. Der Junge, der der Tür am nächsten saß, war bereits drinnen gewesen. Der Platz neben ihm war frei. Gleich würde sich Vierundachtzig, mit dem man gerade sprach, dort wieder niederlassen. Dann käme Sechsundachtzig an die Reihe.
    Sie saßen still nebeneinander und sahen zum Fenster hinaus, die bloßen Füße auf dem kalten Steinfußboden. Niemand traute sich, etwas zu sagen, denn Bartley, der verrückte Busfahrer, passte auf sie auf. Eine böse Spannung lag in der Luft, als er vor ihnen im Flur auf und ab stampfte, im geflüsterten Zwiegespräch mit seinen Dämonen, die Hände hinter dem Rücken zu Fäusten geballt. Ab und an trat er gegen die Bank – es frustrierte ihn, dass ihm die stummen, wie Statuen dasitzenden Jungen keinen Grund gaben, sie zu schlagen.
    Alle vier starrten aus dem Fenster auf den fallenden Schnee. In ihren verschlossenen Gemütern tobten quälende Gedanken. Würde sich das Paar im Büro der Mutter Oberin als gut oder schlecht herausstellen? Würden sie aus dieser Hölle erlöst werden oder würden sie sie nur gegen eine andere eintauschen, die von zwei Erwachsenen statt von vielen beherrscht wurde? Worum sollten sie beten: dass man sie mitnahm oder hierließ? War es denn wirklich möglich, dass einer von ihnen endlich das Paradies eines richtigen Heims fand? Ein warmes Heim mit freundlichenMenschen, die einen anlächelten und beruhigend mit einem sprachen?
    Ihre Zweifel schwebten in einer Wolke zu ihren Köpfen, so dunkel und schwer wie der Himmel hinter den Fenstern. Jeder Junge hatte seine eigene Art, mit dem fertigzuwerden, was vor ihm lag.
    Einundneunzig, der Älteste, starrte mit leeren Blicken und blankem Gesicht auf die wirbelnden Schneeflocken. Er erwartete nichts mehr, er stellte sich nichts mehr vor. Zu oft hatte er auf dieser Bank gesessen und sich Sachen ausgemalt. Zu oft hatte er bittere Enttäuschungen erlebt; seine Hoffnungen und Träume hatten sich

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