Der übersehene Mann: Roman
Apfeltasche und einer Cremeschnitte. Er lud sich die Sachen auf den linken Arm und verschloss die Satteltasche wieder, eine Vorsichtsmaßnahme, zu der er gezwungen worden war, nachdem sich im letzten März ein Mäusepaar dort eingenistet und eine Familie gegründet hatte.
Er bog um die Ecke des Hauses, blieb eine Weile dort stehen und betrachtete die Landschaft, sah über die Felder und Gehöfte, die sich bis in die Ferne zu den Slievegerrin-Bergen hinzogen. Im verhangenen Licht waren sie nur undeutlich wie durch ein beschlagenes Glas zu sehen. Über ihnen im hohen blauen Himmel türmten sich Wolken in allen Schattierungen von Taubengrau bis Weiß auf.
Und was sah Jamie, als er diese ruhige Szenerie mit den Klötzchen weiß gewaschener Gebäude und den versprengten Rindern mit ihren kurzen Schatten betrachtete? Wenig. Der Anblick war ihm so vertraut, dass die ungeheure Schönheit verblasst war und ihm nur noch als verwaschener Hintergrund für seine immergleichen Grübeleien diente.
Wie er dort stand und hinaus über die Felder starrte, war er der Gegenwart entrissen und wieder in seine trostlose Vergangenheit eingetaucht, die er wie Klärschlamm hinter sich herzog; die Vergangenheit, die ihm schwere Schäden zugefügt hatte und mit Verzweiflung und Unentschlossenheit erfüllte. Nach Micks Tod waren die Erinnerungen des Kindes, das mit einer Nummer – und nicht mit Namen – angesprochen worden war, wieder in ihm aufgestiegen. Der einsame, verängstigte Junge in der windumtosten Dunkelheit der Vergangenheit suchte ihn nun bei Tag und Nacht heim.
Deswegen griff er jetzt mehr denn je zum Alkohol und zu den lungen zersetzenden Zigaretten, nach dem süßen Kuchen in der fettigen Tüte und dem Akkordeon in seinem nach Moschus riechenden Kasten – diese flüchtigen Freuden betäubten seinen Schmerz. Sie erhellten die Dunkelheit seines Gemüts und hielten die Erinnerungen eine Weile in Schach, sodass er wieder die »sonnige Lichtung« sah, diesen geheiligten Ort, an dem die Zukunft noch keine Gestalt angenommenhatte. Eine Zukunft, die hundertmal besser sein würde als die Gegenwart.
Wie sehnte er sich danach, dort anzukommen und die Freuden auszukosten, die alle außer ihm zu kennen schienen. In diesem Moment seines beklemmenden Lebens, in seinen mittleren Jahren nach dem Verlust seiner geliebten Familie, spürte er, dass die Antwort darin liegen könnte, seine Gedanken und bescheidenen Besitztümer mit einer Frau zu teilen. Er dachte an die Zeitung und seine Einkäufe, wandte sich mit einem matten Lächeln um und ging ins Haus.
Nachdem er den Tee aufgebrüht hatte, breitete er die Zeitung aus, stellte seinen Becher daneben und riss die Kuchentüte auf. Sie würde ihm als Teller dienen.
Die Cremeschnitte war auf der Fahrt an das Marmeladenglas gequetscht worden und kam aus der Tüte hervor, als habe ein Stier auf ihr herumgetrampelt: Sie war nur noch ein durchweichtes, plattgedrücktes Rechteck; die Sahneschicht war auf die Apfeltasche gedrückt worden und hatte das Papier mit Fettflecken verschmiert. Jamie machte der Anblick der plattgedrückten Schnitte nicht viel aus. Im Mund kam doch eh alles zusammen. Und überhaupt, es war ja sonst niemand hier, der das sah.
Den rechten Arm schützend um die Tüte gelegt, machte er sich ans Essen. Im Waisenhaus hatte er gelernt, seine kümmerlichen Portionen so vor den anderen Insassen zu verteidigen, wobei ihm sein Unterarm überlebenswichtig zugleich als Schranke und als Waffe gedient hatte.
Als er fertig gegessen hatte, wischte er die Krümel von der Zeitung und begann langsam mithilfe seines Zeigefingers die Anzeigen zu lesen. Er schob den Finger stockend von Wort zu Wort. Diese Lesetechnik hatte er im Klassenzimmer gelernt und nie abgelegt. Wenn er bei einer Anzeige über die Wörter »professionell«, »intelligent« oder »abenteuerlustig« stolperte, fiel bei ihm eine Klappe zu und sein Finger tastete sich zur nächsten Anzeige.
Diese anstrengende Aufgabe – lesen, nachdenken, weiterlesen – beanspruchte Zeit. Jamie hatte den Tee ausgetrunken und den Kuchen aufgegessen,zwei Zigaretten geraucht, war aufs Außenklo gegangen und hatte fünfzehn Frauen ausgeklammert, bevor er schließlich auf eine Anzeige stieß, die ihm genau das zu verheißen schien, wonach er suchte.
Er las sie laut, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich dort stand und seine Vorstellungskraft ihn nicht aufs Glatteis führte.
Reife Dame, die gerne kocht, gärtnert,
liest, Musik und Tiere
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