Der übersehene Mann: Roman
ihren Schülern. Sie stellte das Tablett aufs Bett.
»Danke, Liebes.«
Elizabeth Devine setzte ihre Brille ab und verstaute die Strickarbeit in einer Teppichtasche. Sie war eine beherzte Sechsundsiebzigjährige, die sich ihrer Stellung als Matriarchin wohl bewusst war. Auch sie legte großen Wert auf ihr Äußeres.
Als sie sich im Bett zurechtsetzte, ähnelte sie einem Püppchen, und die von Satinbändchen eingefasste und mit gehäkelten Röschen bestickte babyrosa Bettjacke verstärkte diesen Eindruck noch. Der Blick ihrer hellblauen Augen, die jeder Bewegung der Tochter folgten, war trotz ihres Alters hellwach und ungetrübt.
Nur die Adlernase – ein markantes Erkennungszeichen der weiblichen Familienmitglieder, das Lydia glücklicherweise nicht geerbt hatte – passte nicht richtig zu ihrer kindlichen Ausstrahlung. Als sie jung gewesen war, glich Elizabeth von vorne einer Prinzessin, von der Seite aber sah sie aus wie eine von Aschenputtels hässlichen Stiefschwestern.
»Hast du schlecht geschlafen?«, fragte die Tochter sie besorgt.
»Die Sonne hat mich geweckt.« Sie sah Lydia vorwurfsvoll an. »Du hast die Vorhänge letzte Nacht nicht richtig zugezogen.«
»Oh, Mutter, das tut mir aber leid. Aber es ist ein schöner Morgen, findest du nicht?«
Wie üblich zog sie einen Stuhl ans Bett und wartete darauf, dass sich ihre Mutter über das Frühstück oder ihre Erscheinung beschweren würde. Beide Frauen waren so an dieses Ritual gewöhnt – die eine an die Vorwürfe, die andere an die Rechtfertigung –, dass ihr erstes Zusammentreffen am Morgen einer lebhaften Sitzung in einem Gerichtssaal ähnelte.
Heute war am Frühstück zunächst nichts auszusetzen, dafür musste Lydias schicke Kleidung herhalten.
»Warum hast du dich so herausgeputzt? Triffst du dich mit jemandem? Der Direktor ist doch ein verheirateter Mann.« Die Wangen der Tochter röteten sich selbst unter der Schutzschicht Puder sichtlich.
Mrs Devines größte Angst war, dass Lydia einen Ehemann finden und sie verlassen könnte. Ihr geliebter Ehemann war vor einem Jahr verstorben, und diese Tragödie und ihr Alter hatten dazu geführt, dass sie langsam den Bezug zur Wirklichkeit verlor. Sie spürte, dass ihre Tochter sich jetzt, wo sie dem strengen Griff des Vaters entkommen war, behaupten und selbstständig machen könnte.
Die einzige Waffe, die sie im Kampf um die Zuneigung ihrer Tochter noch einsetzen konnte, war, Lydia an die Schlechtigkeit der Männer zu erinnern. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit verkündete sie ihre entschiedenen Meinungen zur Schwachheit der männlichen Spezies und zu den Widrigkeiten des Ehestands.
»Männer, ob verheiratet oder alleinstehend, haben sowieso nur eines im Sinn. Merk dir das.«
Sie köpfte das Ei mit ihrem James-Eaton-Löffel, der Teil eines wertvollen silbernen Sets war, das ihr der Ballinascuddy Ladies Club zur Hochzeit geschenkt hatte.
»Der einzige Grund, aus dem ich deinen Vater geheiratet habe, war der, dass er sich nicht für die Unerfreulichkeiten des Schlafzimmers interessiert hat.«
Sie löffelte etwas aus ihrem Ei und hielt es vor sich in der Luft.
»Wir sind uns nur aus einem Grund nähergekommen, nämlich ...«
»Ja, ich weiß: um mich zu bekommen ...« Lydia kannte das Drehbuch genau und kam ihrer Mutter einen Schritt zuvor.
»Was nimmst du dir deiner Mutter gegenüber heraus!«
»Ach, Mutter. Ich bin vierzig, kein Kind mehr. Wäre es nicht an der Zeit, dass du endlich mal damit aufhörst, mir Schuldgefühle für meine Existenz einzureden?«
Sie stand auf und ging zum Fenster, die Arme eng vor der Brust verschränkt.
»Das Ei ist ja hart! Du weißt doch, dass ich bei meiner Verdauung nichts Hartes essen kann.« Die Luft schien von Elizabeths plötzlichem Ärger zu knistern. »Dr. Moody sagt, ich muss da sehr vorsichtig sein.«
»Das Ei kann gar nicht hart sein.« Lydia beobachtete eine winzige Ammer, die gerade auf einem Pfahl im Garten gelandet war. »Ich hab es genau vier Minuten nach Letti McCleans Eieruhr gekocht.«
Jedes Erbstück und alle Antiquitäten in Mrs Devines Haus trugen die Namen ihrer ehemaligen Besitzer, eine Sitte, die Elizabeth von ihrer Mutter übernommen und nun an ihre Tochter weitergegeben hatte. Lydia war zwischen den Geistern von Verwandten und Freunden groß geworden, die in den wirren Ansammlungen von Geschirr und Nippes weiterlebten.
»Ach, Letti McClean, das war eine Frau! So geschickt mit ihren Händen.« Elizabeth setzte zu einer ihrer
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