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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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sie das Gästebuch. Dabei war sie sich voll bewusst, dass sie dem Farmer einen freigebigen Blick auf ihr Dekolleté gewährte. Jamie starrte verwundert darauf. Gladys sah hoch.
    »O nein, ich habe nichts gebucht. Da heute Montag ist, habe ich gedacht, ich komme einfach so vorbei.«
    »Tja, es tut mir leid, Sie in diesem Fall enttäuschen zu müssen, aber dieses Haus ist das ganze Jahr über sehr gut besucht, vor allem in dieser Saison.« Gladys knallte das Buch zu und sah Jamie an, als er unter ihrem Faustschlag in die Knie ging. »Ich kann Ihnen aber O’Neills an der Ecke empfehlen. Deren Preise kommen dem, was Sie sich wahrscheinlich vorstellen, auch näher.«
    »Ach, das ist aber schade.« Jamie griff nach der Plastiktüte und wandte sich zum Gehen.
    Gladys legte den Kopf mit vorgetäuschtem Mitgefühl zur Seite. »Es tut mir auch wirklich sehr leid.«
    »Das ist schade«, wiederholte Jamie, »denn ein sehr angesehener Mann hat mir das Ocean Spray empfohlen. Hat mir gesagt, ich sollte hier für ein paar Tage herkommen, wegen meinem Rücken.«
    »Aha. Und wer könnte dieser Herr sein, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich ihn kenne?«
    »Dr. Brewster aus Tailorstown. Großartiger Arzt. Wir können uns keinen Besseren vorstellen, wirklich nicht.«
    Sofort setzte Gladys ihr Neonlächeln auf. »Aber warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Wenn Humphrey – ich meine Dr. Brewster – uns empfohlen hat, dann ist das etwas ganz anderes.«
    »Wie bitte?« Jamie zog sich am rechten Ohr und strich sich mit der Hand übers Haar, nur um sicherzugehen, dass es ordentlich lag.
    Gladys lehnte sich verführerisch über das Gästebuch.
    »In dem Fall müssen wir doch etwas für Sie finden, Mr äh ...«
    »McCloone.«
    »Mr McCloone. Natürlich.« Sie fuhr mit einem rot lackierten Fingernagel die Reservierungsliste hinab, machte eine Pause und sah dann hoch.
    »Oh, Sie haben wirklich Glück, Mr McCloone! Ich sehe gerade, dass doch noch ein Einzelzimmer frei ist. Wie lange wollen Sie bleiben?«
    »Nur zwei Nächte. Ich würde ja gerne drei oder vier bleiben, aber mit der Farm und allem ...«
    »Sicherlich, Mr McCloone.« Gladys überlegte sich gerade, wie viel teurer sie das Zimmer machen konnte, und kam zu dem Schluss: wahrscheinlich nicht sehr viel. »Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden.« Sie bot ihm den goldenen Parker an. »Das wären dann zehn Pfund und zweiundfünfzig Pence.«
    Jamie sah sie verschreckt an. Gladys lächelte ihn mit großen Augen an.
    »In Ordnung«, sagte er mit einem Anflug von Resignation und nahm den Stift entgegen.
    »Im Voraus«, sagte sie zu Jamies kahler Kopfhaut. Er zuckte ganz leicht bei dieser Nachricht zusammen, bevor er damit fortfuhr, seinen Namen umständlich auszuschreiben.

20
    »Ja, der Junge ist ein guter Arbeiter.«
    Direktor Keaneys angsteinflößende Stimme war unheilvoll.
    Wieder stand Sechsundachtzig auf dem Pfauenmuster-Teppich und starrte auf seine Füße hinunter. Vier Augenpaare beobachteten ihn: Keaney, Mutter Vincent und zwei Fremde, ein Mann und eine Frau, die er noch nie gesehen hatte.
    »Kopf hoch, Junge, wenn man mit dir spricht«, bellte Keaney ihn an.
    Langsam hob der Junge den Kopf und fixierte das schwere Holzkreuz, das auf dem Brusteinsatz von Mutter Vincents Ordenstracht lag. Sie saß ein paar Meter von ihm entfernt und sah hinter dem sonnengebleichten Schreibtisch Achtung gebietend aus.
    Keaney saß wie immer in seinem Lehnstuhl am Kamin. Sechsundachtzig hätte vieles darum gegeben, seine Hände und Knie am Feuer aufzuwärmen. Ein Wunsch, den er unterdrückte. Der Mann im Sessel konnte so gefährlich sein wie die glühenden Kohlen, die er bewachte.
    Die Fremden hatten auf dem durchgesessenen Sofa mit den abgeschabten Armlehnen Platz genommen. Er traute sich nicht, in ihre Richtung zu blicken, und fragte sich, warum er zu dieser Stunde in diesen Raum gerufen worden war. Soweit er wusste, hatte er sich seit der Sache mit der Rübe nichts mehr zuschulden kommen lassen, und das war schon eine ganze Weile her.
    Mutter Vincent ergriff das Wort.
    »Dies sind Amos und Constance Fairley«, erklärte sie ihm brüsk. »Mrs Fairley ist eine Schwester unseres Direktors Mr Keaney.«
    Sechsundachtzig sah in die unbewegten Gesichter des Paares. Der Mann sah Keaney zum Verwechseln ähnlich. Er war blass und hager, hatte dasselbe spitze Gesicht und tote Augen. Seine hässlichen, verdreckten Hände, mit denen er seine Knie umklammerte, standen in keinem Verhältnis zu

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