Der übersehene Mann: Roman
vor Charme, Elizabeth machte ihre zynischen Kommentare darüber und Lydia erfreute sich ohne unliebsame Überraschungen an ihren Mahlzeiten.
Lydia lächelte, als sie die Zeitschrift durchblätterte. Wenn ich eine Schwester gehabt hätte, fragte sie sich, hätte ich mich mit ihr dann wohl auch so viel gestritten wie die beiden? Vielleicht bleiben wir zu einem gewissen Grad immer die Kinder, die wir einmal gewesen sind. Ein wesentlicher Teil unseres Ichs scheint sich immer an die Wutanfälle im Laufställchen und auf dem Schulhof zu erinnern.
Bald würde Tante Gladys mit ihr einen Aperitif vor dem Essen trinken wollen, während Elizabeth vor dem Essen immer noch etwas schlief. Ihr war aufgefallen, dass ihre Mutter weniger aß und mehr schlief als zu Hause; Lydia wusste nicht, ob das eine Strategie war, ihrer Schwester aus dem Weg zu gehen, oder ob die Seeluft dafür verantwortlich war. In jedem Fall tat Elizabeth die Ruhe gut, und das war alles, worauf es ankam.
Die Tür öffnete sich, und das riss Lydia aus ihren Gedanken. Gladys trat majestätisch in einem engen kaffeebraunen Zweiteiler aus Satin ein.
»Nun, kleine Lily, Zeit für unsere kleinen Drinks, bevor es hier rundgeht.«
Bevor ihre Nichte darauf antworten konnte, war sie bereits beim stilvollen Cocktailschrank und goss ihnen beiden großzügig Cockburns Portwein in zwei Bleikristallgläser ein. Lydia nahm ihres zögernd entgegen.
»Gladys, du weißt doch, dass ich nichts trinke.«
»Unsinn.« Die Tante ließ sich vorsichtig auf dem griechischen Sofa nieder. »Zeit, mal mit dem Leben anzufangen, Liebes.« Sie hob ihr Glas. »Zum Wohl. Dies ist auf meine kleine Nichte, die sich einen Mann sucht und sich mit ihm niederlässt.«
»Da hab ich doch kaum noch eine Chance, Gladys«, sagte Lydia, nippte am Port und schüttelte sich.
»Papperlapapp! Du sendest einfach nicht die richtigen Signale aus. Männer wollen wissen, ob eine Frau zu haben ist.«
»Ja, aber ich bin nicht wie du, Gladys.« Lydia sah sich das tiefe Dekolleté mit dem Brokatsaum an, die Knie in den Seidenstrümpfen und dachte, Gladys sähe aus, als wollte sie ins Bett oder ins Freudenhaus. »Ich bin einfach nicht extrovertiert.«
Lydia setzte das Glas auf dem Couchtisch ab und fragte sich, wie sie das Thema loswerden konnte, ohne ihre Gastgeberin zu verletzen. Bei diesen Unterhaltungen mit Gladys fühlte sie sich immer unwohl, denn sie drehten sich unweigerlich um Männer, über die Lydia so wenig wusste.
»Soll ich offen sein, Liebes? Du musst wie ein Taxi werden.«
»Ein was?«
»Ein Taxi, Liebes. Wie kannst du erkennen, ob ein Taxi frei ist?«
»Ähm ... das Licht ist an?«
»Genau! Du musst den Männern zeigen, dass dein Licht an ist. Dass du zu haben bist.«
»Und wie mache ich das?« Lydia versuchte, interessiert zu klingen. Sie wusste, dass sie ihrer Tante nach dem Mund reden musste.
»Na, ich verrate dir ein kleines Geheimnis ...« Gladys machte eine Pause und nahm sich eine Zigarette aus einem Elfenbeinkästchen auf dem Couchtisch. Dann drückte sie auf die Wangen eines mit Halbedelsteinen überzogenen Cheruben. Zu Lydias Erstaunen schoss eine Flamme aus dem Scheitel seines silbergelockten Kopfes. Sie wartete, bis ihre Tante die Zigarette angeraucht hatte, und fragte sich, was so wichtig sein konnte, dass es eines solchen nikotinimprägnierten Vorgeplänkels bedurfte.
»Wie lässt du einen Mann wissen, dass du zu haben bist? Ganz einfach, Liebes: Du trägst den Rock kürzer und das Dekolleté tiefer.« Gladys ließ den Rauch aus den Nasenflügeln entweichen. »Mit anderen Worten, liebe Lily, du solltest etwas kreativer mit deinem Aussehen umgehen. Dieses blaue Etuikleid ist gar nichts für deine Figur. Ich weiß ja, dass du keinen großen Busen hast, also ist ein tiefer Ausschnitt wahrscheinlich nicht das Beste für dich.« Sie zog heftig an ihrer Zigarette. »Ich könntemir eine gesmokte Bluse für dich vorstellen, denn sie täuscht eine volle Brust vor.« Sie legte eine Hand auf ihren eigenen ausladenden Busen, als wollte sie ihre Worte unterstreichen, und schlürfte wieder an ihrem Portwein.
»Mit der flachen Brust kommst du nach deiner Mutter«, fuhr sie fort und übersah Lydias missbilligendes Stirnrunzeln unbekümmert. »Und frag mich nicht warum, aber die meisten Männer werden zuerst vom oberen Teil der Anatomie einer Frau angezogen. Wahrscheinlich hat es was mit Babys und mütterlicher Bindung zu tun oder was auch immer. Was ich sagen wollte: Zeig ihnen, was sie
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