Der übersehene Mann: Roman
lächelte zurück.
»Du traurig«, sagte Sarah fast anklagend und riss sich los. Bevor Lydia antworten konnte, rannte sie zum Tisch und kam mit einer zerfledderten Ausgabe des National Geographic zurück, die sie ihr in den Schoß warf.
»Danke, Sarah.«
»Miss Devine?«
Lydia wandte sich erschrocken um. Die ernste Schwester hinter dem Empfangstresen hatte sie gerufen.
»Dr. Bennett möchte jetzt mit Ihnen sprechen. Die zweite Tür links, den Flur hinunter.«
Lydia stand auf. Vom langen Sitzen waren ihre Beine ganz taub geworden. Sie beugte sich zu dem kleinen Mädchen hinunter.
»Tschüs Sarah. Wenn ich wiederkomme, lese ich dir was aus der Zeitschrift vor.«
Das Mädchen sah zu ihr auf und nuckelte am Zeigefinger. Lydia tätschelte ihr den Kopf.
Das kleine Mädchen jammerte hinter ihr her, als sie weinend den Saal verließ, um zu erfahren, was ihr der Kardiologe mitzuteilen hatte.
Auf dem Heimweg im Taxi war sie etwas hoffnungsvoller gestimmt. Mr Bennett hatte ein sogenanntes Vorhofflimmern diagnostiziert und erklärt, dass es nicht selten vorkam, vor allem nicht bei alten Leuten, bei denen das Herz nicht mehr mit ganzer Leistung arbeitete. Eine Folge konnte sein, dass sich Blutgerinnsel bildeten. Und so ein Gerinnsel hatte sich bei ihrer Mutter gelöst und sich in einer Arterie festgesetzt, die zum Gehirn führte – so war es zu dem Schlaganfall gekommen.
Ihre Mutter lag auf der Intensivstation und war noch immer ohne Bewusstsein. Man hatte Lydia einen kurzen Besuch erlaubt, bei dem sie nicht viel mehr tun konnte, als der komatösen Patientin Mut zuzusprechen und ihrer Liebe zu versichern. Sie würde wohl eine Weile dortbleiben müssen, sagte man Lydia, je nachdem, wie sie auf die Behand lung reagierte. Es war ja gerade erst passiert, hatte der Kardiologe gemeint, und das hatte wie ein Echo der ominösen Aussage von Dr. O’Connor zu den ersten achtundvierzig Stunden geklungen.
Man hatte ihr geraten, nach Hause zu fahren und den weiteren Verlauf in Reichweite des Telefons abzuwarten.
25
»Es war richtig schön, Rose, richtig schön.«
Wieder einmal saß Jamie in der Küche der McFaddens mit einem Becher Tee und einem Stück Blechkuchen mit Marshmallows und Rice-Krispies. Es war später Nachmittag und er wartete auf Paddy, mit dem er nach Tailorstown fahren wollte, um einen Anzug bei Harveys Mode für Sie und Ihn auszusuchen. Paddy war noch oben und machte sich für den Ausflug fertig.
»Es war das großartigste Haus, in dem ich je gewesen bin«, schwärmte Jamie zwischen zwei Bissen.
»Ja, Jamie, das hab ich auch schon gehört.«
Rose saß in einem Sessel am Ofen, die Beine auf einen Hocker hochgelegt, auf den die Kalksteinspitze des Mount Errigal gestickt war. Sie nähte gerade ein paar blaue Fellbommeln an einen orange und smaragdgrün gestreiften Teewärmer und wollte Jamie wieder an ihren tiefen, wenn auch irgendwie verwirrenden Einsichten teilhaben lassen. Er ahnte das schon, denn immer wenn Rose das vorhatte, entwickelte sie ihre Gedanken wie ein abstraktes Kunstwerk. Am Ende entstand dann etwas, was ihr selbst einleuchtend erschien, von anderen aber kaum verstanden werden konnte.
»Gott, so was wie in dem Haus hab ich noch nie gesehen, Rose! Ich hatte Angst, irgendwas anzufassen, um bloß nichts runterzuschmeißen.«
»Genauso isses nämlich in diesen großen Schuppen. Irgendwie hat man dauernd Angst hinzufallen und dann auch noch ’ne Lampe oder ’ne Vase oder ’n Tisch oder was auch immer mit runterzureißen.«
Sie zog eine Bommel aus einem vollgestopften Korb zu ihren Füßen hervor und drückte sie mit dem Daumen gegen den Teewärmer.
»Und weißt du, wer mich an einem Morgen beim Frühstück überrascht hat? Keine geringeren als Doris und Mildred.«
»Das gibt’s doch gar nich, Jamie!«
»Doch! Doris konnte nich mehr richtig hören nach dem Überfall, und da hat Dr. Brewster sie für eine Woche mit den Ohren weggeschickt. Und weißte was, Rose, sie hat super ausgesehen.«
»Na ja, Jamie, sie sieht vielleicht gut aus, aber sie hat zwei linke Hände. Sie kann noch nich mal ein Ei kochen oder ’n Knopf annähen, und wenn du se totschlägst. Und wo wir grad bei Eiern sind – ich nehm mal an, das Essen war gut?« Rose wollte Jamie so schnell wie möglich von der verwitweten Poststellenleiterin wegsteuern. Ihrer Meinung nach war sie nur »Gebrauchtware« und von daher für die Ehe mit einem Junggesellen wie Jamie nicht gut genug.
»Essen, Rose? Vom Feinsten. Die Ulster-Pfanne
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