Der übersehene Mann: Roman
Geist, der sich gerne vergnügte und gute Laune versprühte.
Wie interessant, dachte sie, dass wir die Eigenarten derjenigen, die uns nahestehen, annehmen und reproduzieren, als seien wir wandelnde Spiegelbilder. Ob sie uns nun gut getan haben oder nicht. Unsere Freiheit liegt darin, uns das bewusst zu machen und uns von den Vorspiegelungen abzuwenden, die nicht gut für uns waren.
Der Toast war kalt geworden, aber sie wollte ihn trotzdem servieren. Ihre Mutter knabberte sowieso höchstens eine Ecke an.
Sie ging mit dem Tablett die Treppe hoch und betrat das stille Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen und sie konnte kaum die Umrisse der Möbel erkennen, aber das machte ihr nichts. Sie kannte den Raum so gut, dass sie die Kommode, auf der sie das Tablett immer abstellte, ohne Schwierigkeiten fand.
»Guten Morgen, Mutter!«, sang sie und zog die Vorhänge zurück. »Zeit aufzuwachen.«
Im Bett regte sich nichts.
Ungewöhnlich.
Lydia runzelte die Stirn. Panik stieg in ihr auf. Sie rannte zum Bett und schlug die Decke zurück.
»O mein Gott! Nein!«
Das Gesicht der alten Dame war von einem tödlichen Grün. Lydia keuchte.
»Oh, bitte, lieber Gott, bitte! Es tut mir so leid, was ich eben gedacht habe!« Sie begann zu weinen. »Ich habe das alles überhaupt nicht so gemeint! Bitte, lieber Gott, lass meine Mutter nicht ...« Sie konnte den Satz nicht beenden, traute sich nicht, das letzte Wort auszusprechen, damit ihre Äußerung die Situation nicht zu einer Tatsache machte.
Zitternd legte sie eine Hand an den Hals der Mutter und fühlte nach ihrem Puls. Ihre Haut war warm. Sie seufzte erleichtert, sie spürte auch einen schwachen Herzschlag.
»Gott sei Dank.« Sie deckte ihre Mutter wieder zu und rannte zum Telefon nach unten im Flur.
Die Stimme der Sprechstundenhilfe war hart und geschäftsmäßig. »Praxis Dr. Lewis, guten Morgen.«
»O bitte! Hier spricht Lydia Devine.« Sie fing wieder an zu weinen.
»Beruhigen Sie sich. Was ist denn los?« In der Stimme der Frau klang kaum Mitgefühl.
»Es geht um meine Mutter«, brachte Lydia weinend hervor. »Es geht ihr sehr schlecht. Ich glaube, dass sie vielleicht ...« Sie konnte nicht mehr weitersprechen.
»Atmet sie?«
»Ja, aber nur ganz schwach.«
»Gut. Bleiben Sie bei ihr. Sprechen Sie mit ihr. Der Arzt wird gleich bei Ihnen sein.« Sie legte auf.
Lydia legte zitternd auf und lehnte sich gegen die Wand.
Die Zeit zwischen dem Telefonat und der Ankunft des Arztes kam Lydia endlos vor. Sie versuchte zu begreifen, was geschehen war. Sie saß am Bett der Mutter, hielt ihre Hand und versuchte, durch ihre Tränen mit ihr zu sprechen. Elizabeths Augen waren geschlossen, ihr Atem ging so flach, als halte sie sich in einem Reich nicht von dieser Welt auf, in dem fremde Regeln und Gesetze galten.
Als es schließlich klingelte, war sie so tief in ihre Trauer abgetaucht, dass sie es überhörte. Doch die Klingel schellte hartnäckig durch das Haus und schließlich tauchte Lydia so weit auf, dass sie das Geräusch erkannte und auch realisierte, warum so stürmisch geklingelt wurde. Sie eilte die Treppe hinunter. Ein Fremder stand auf der Schwelle.
»Ich bin Dr. O’Connor. Ich vertrete Dr. Lewis.« Er streckte die Hand aus.
Lydia starrte einen ziemlich großen und schrecklich dünnen Mann mit einem traurigen, aber gut aussehenden Gesicht an. Sicherlich hatten lange Jahre der Behandlung von Kranken und Gebrechlichen und das Überbringen schlechter Nachrichten und Prognosen sein Gesicht gezeichnet. Ein Arzt, der auch gerufen wurde, wenn jemand im Sterben lag.
»Ich bin Lydia«, sagte sie unsicher. »Lydia Devine. Meine Mutter ist oben.«
Er strahlte Autorität und Professionalität aus und ging vor ihr mit gemäßigten Schritten die Treppen hoch.
»Wie heißt sie?«, fragte er und beugte sich über das Bett.
»Elizabeth.« Lydia stand mit zusammengepressten Händen an der anderen Bettseite und starrte auf ihre Mutter hinab. »Wird es ihr bald wieder besser gehen?«
Er antwortete nicht, sondern nahm ein Stethoskop aus der Tasche und prüfte ihren Puls, wobei er zwischen seiner Armbanduhr und derPatientin hin- und hersah. Dann richtete er sich wieder auf und legte das Stethoskop zur Seite.
»Wie ist es ihr in der letzten Zeit gegangen?«
»Sie war müde. Wir sind gerade von einem einwöchigen Urlaub zurückgekommen und dort ist mir schon aufgefallen, dass sie viel geschlafen und wenig gegessen hat.« Der Arzt sah sie direkt an. Lydia zog ein Taschentuch
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