Der übersehene Mann: Roman
aus dem Ärmel und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel – ihr war plötzlich bewusst, wie schrecklich sie aussehen musste. Merkwürdig, dachte sie, als würde jemand anderes ihre Gedanken abläufe überwachen, dass wir uns zu den unpassendsten Zeiten Gedanken um unser Aussehen machen. »Manchmal hat sie über Schwindel geklagt.«
»Tja. Sie muss sofort ins Krankenhaus.« Er nahm die Tasche und ging zur Tür. »Ich muss einen Krankenwagen rufen.«
Er wählte die Nummer auswendig, gab ein paar kurze Anweisungen und hängte wieder auf.
»Der Krankenwagen ist in fünfzehn Minuten hier.«
Lydia begann wieder zu weinen. »Sie stirbt, oder?«
Er legte ihr behutsam die Hand auf den Arm und sein Mitgefühl stärkte sie, auch wenn sie das bei seinem strengen Äußeren gar nicht erwartet hätte.
»Hier stirbt niemand«, sagte er sanft. »Aber Sie müssen sich setzen, Mrs Devine.«
»Miss«, korrigierte sie ihn – und fragte sich sofort, ob das zu aufdringlich geklungen haben könnte.
Sie gingen ins Wohnzimmer, wo er sich in einen Lehnstuhl setzte und Lydia auf das Sofa.
»Ihre Mutter hat einen Schlaganfall gehabt. Die nächsten achtundvierzig Stunden sind jetzt ausschlaggebend.«
»Sie meinen, sie könnte sterben?«
Sie sah ihn genau an, während sie auf das Schlimmste wartete. Ihr fielen der nachlässig gebundene Knoten seiner grauen Krawatte und das ungebügelte Hemd auf. Er hat offensichtlich keine Frau, die sich um soetwas kümmert, dachte sie – und schämte sich sofort für ihre ungehörigen Gedanken an diesem schicksalhaften Morgen. Sie spürte, wie sie rot wurde.
»Es kann sein, aber es ist noch zu früh, um das zu sagen. Meine Mutter hatte vor einigen Jahren auch einen, aber sie ist durchgekommen.«
Lydias Gesicht hellte sich auf. »Und sie lebt noch?«
»Leider nicht. Sie ist letztes Jahr an einem Herzinfarkt gestorben.« Lydia starrte ihn an. Er musste Anfang vierzig sein. »Meine Mutter war zweiundachtzig«, sagte er. »Eltern werden alt, sie sterben. Wir müssen uns damit auseinandersetzen.«
Das fand sie sehr direkt und kalt. Er schien sie auf das Schlimmste vorbereiten zu wollen. Wie konnte er nur so herzlos sein? Allerdings musste sie sich auch eingestehen, dass man in dem Beruf lernen musste, sich zu distanzieren; wenn man sich gefühlsmäßig allzu sehr auf seine Patienten einließ, würde die Arbeit auch darunter leiden. Sie mochte Dr. O’Connor trotzdem nicht. Er musste ihr das angesehen haben, denn jetzt widmete er seine volle Aufmerksamkeit seinen Händen.
»Oh, das tut mir leid«, sagte sie. »Das mit Ihrer Mutter.«
»Danke«, sagte er lächelnd. »Aber so ist das Leben.« Er sah aus dem Fenster, dann auf seine Uhr. »Sie sind da. Zehn Minuten. Sehr gut!« Er stand auf, als der Krankenwagen die Einfahrt hochgefahren kam.
»Nehmen Sie lieber einen Mantel mit. Sie können hinten mitfahren.«
Drei Stunden später saß Lydia auf einem Plastikstuhl im Wartesaal des Krankenhauses, einem großen, freudlosen Raum. Auf einem niedrigen Tisch in der Mitte lagen zerlesene alte Zeitschriften. Und oben in einer Ecke lief auf einem Fernseher eine ultrabrutale Zeichentrickserie für Kinder.
Seit Lydia dort wartete, waren schon einige Menschen gekommen und gegangen, aber sie hatte sie kaum wahrgenommen. Sie hatte die Hände in den Taschen ihres Jacketts vergraben und starrte auf den Boden. Ihr schien, als sei ihre Mutter bereits tot, sie war sich sicher, dass es nie wieder wie früher werden würde.
Sie war so froh, dass sie den kleinen Urlaub bei Gladys gemacht hatten. Wie hätte sie auch wissen sollen, dass es ihr letzter sein würde. Eine Träne rollte ihr die Wange herunter und fiel auf ihre Bluse. Sie folgte ihrer Spur, dann schloss sie die Augen. Sie dachte an ihre einsame Zukunft – und je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr weinte sie. Die Realität des Wartesaals und der Menschen um sie herum hatte sie ausgeblendet. Bis sie eine kleine klebrige Hand auf der ihren spürte. Sie wischte die Tränen weg; ein kleines Mädchen von vier oder fünf Jahren sah sie aus großen blauen Augen von unten an. Lydia lächelte und nahm ihre Hand.
»Was für ein schönes Mädchen du bist! Wie heißt du?«
»Sa ... rah.« Sie schob ihren dunklen Pony zur Seite und rieb sich mit der Faust das rechte Auge.
»Was für ein schöner Name. Und wo ist deine Mami, Sarah?«
»Da drüben.« Das kleine Mädchen zeigte auf eine junge Frau, die sie von der anderen Seite des Raumes anlächelte. Lydia
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