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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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würde Mr McCloone treffen, und wenn es nur aus Neugierde war. Und sie würde sich wieder auf Daphnes Dienste als Anstandsdame verlassen.
    Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte erst Viertel nach sieben, zu früh um aufzustehen. Sie ließ sich wieder in die Kissen sinken und freute sich über die Bequemlichkeit und Vertrautheit des eigenen Bettes. Vor drei Tagen waren sie aus Portaluce zurückgekommen und Lydia hatte den Eindruck, dass sie noch mehr Ferien brauchte, damit sie sich von den letzten erholen konnte.
    Das Ocean Spray war wirklich ein nobles Haus, aber seiner Pracht und Größe zum Trotz hatte es etwas Nüchternes. Man fühlte sich dort einfach nicht wie zu Hause. Vielleicht lag das an Tante Gladys. Nein, siewar sich sicher, dass es an ihr lag. Meistens lag es nicht an den Orten, sondern an den Menschen, die sie bewohnten.
    Lydia hatte die liebe Gladys wirklich in ihr Herz geschlossen, aber sie war sich der Kluft zwischen ihnen bewusst. Es schien keinen gemeinsamen Nenner zu geben, keinen gemeinsamen Boden, auf dem sie sich wirklich kennenlernen konnten.
    Gladys liebte die oberflächliche Welt der Mode, sie ging zu Cocktailpartys und traf sich mit Männern, während Lydia sich in der eher nüchternen Welt der Bücher und Pflichten bewegte und sich bemühte, immer das Richtige zu tun. Offensichtlich hatte Gladys, die ältere von ihnen, mehr Spaß. Sie hatte die Kunst, »mal mit dem Leben anzufangen« perfektioniert, und Lydia wusste, dass sie auch »mal mit dem Leben anfangen« wollte.
    Als sie das Frühstück für ihre Mutter vorbereitete, hing sie diesen Gedanken weiter nach. Was würde passieren, wenn sie beschloss, die Mauern ihrer engen kleinen Welt einzureißen und »mal mit dem Leben anfing«?
    Als sie ein Ei ins kochende Wasser gleiten ließ und Lettie McCleans Eieruhr anstellte, spürte Lydia, dass drastische Veränderungen nicht möglich waren, solange ihre Mutter am Leben war. Wer sollte denn dann all diese eintönigen, aber notwendigen Verrichtungen ausführen, wenn nicht Lydia? Wer würde ihr beim Ankleiden helfen, ihre Zeitschriften besorgen, sie pflegen, wenn sie krank war, sie zu ihren Terminen kutschieren, ihre Fragen beantworten und ihren endlosen Lobreden auf ihren verstorbenen Vater zuhören?
    Sie setzte sich gedankenverloren hin, um den Toast zu buttern. Sie war tatsächlich der Fels, auf dem ihre Mutter ruhte, und auf den sie sich zum Überleben und zu ihrer Unterstützung verließ. Aber was, wenn der Fels plötzlich von der Sturzflut des Lebens weggespült wurde? Was sollte dann geschehen?
    Von Zeit zu Zeit nagten diese Fragen an Lydia, aber seit einiger Zeit hatte sich etwas verändert. Sie wusste nicht warum – vielleicht war es das Aufgeben ihrer Anzeige gewesen, die Aufforderung ihrer Tante oderdie Prophezeiung der Wahrsagerin – doch sie war jetzt erst bereit, sich diesen Fragen zu stellen und zu untersuchen, was sie zu bedeuten hatten.
    Wie kamen andere Frauen in derselben Situation wie ihre Mutter zurecht, kinderlose zum Beispiel oder Witwen, deren Kinder früh geheiratet und das Nest verlassen hatten? Die niemanden hatten, der sie umsorgte? Wahrscheinlich mussten diese Frauen sehr stark sein und die harten Lektionen des Lebens lernen. Mut und Unabhängigkeit waren ihnen aus Umständen erwachsen, die sie sich nicht unbedingt selbst gewünscht hatten, aber durch diese Erfahrungen begriffen sie vielleicht, dass es tatsächlich ein viel schlimmerer Zustand sein konnte, an die Bedürfnisse eines anderen gebunden als auf sich selbst gestellt zu sein.
    Ihre Mutter und ihre Tante hatten ihre Eltern durch einen Autounfall verloren, als Gladys noch ein Teenager gewesen war; und dieser tragische Vorfall hatte die verwaisten Schwestern gezwungen, schnell erwachsen zu werden. In dieser Zeit taten sie das, was sie für das einzig Mögliche hielten: Sie heirateten den erstbesten Mann und schafften so Ersatz für ihre verstorbenen Beschützer in dieser harten Welt, in die sie so plötzlich hinausgestoßen worden waren.
    Unglücklicherweise hatte Elizabeth einen Mann kennengelernt, der sie davon abhielt, die Welt zu entdecken, und so hatte sie all ihre Ängste vor dem Unbekannten und ihre eigenen Beschränkungen auf Lydia übertragen. Gladys aber hatte den lockeren und aufgeräumten Freddie geheiratet.
    Lydia erinnerte sich an sein rundes, lachendes Gesicht und daran, wie gerne er mit ihr gespielt hatte, als sie ein Kind gewesen war. Er war so anders als ihr Vater gewesen: ein freier, fröhlicher

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