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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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sagen, da das Experiment mit Fred ja im entscheidenden Moment gekippt war.
    »Soll heißen«, sagte Gerda, »du wolltest den armen Jungen grillen.«
    »Auf einen solchen Ton gehe ich nicht ein.«
    »Ach je!« meinte Gerda und riß ihrem Bruder die Untersuchungen über die Dummheit aus der Hand.
    »Mach keinen Unsinn«, flehte Bobeck, wohl in der Befürchtung, Gerda könnte das Regina zerstören wollen. Um die Welt zu retten. Oder ihn, den Bruder, in den Wahnsinn zu treiben. Etwas in dieser Art.
    Aber in erster Linie wollte sie wohl sich selbst retten und stopfte sich das drogenhältige Buch unter ihren Pullover, in der berechtigten Annahme, daß Siem sich unter keinen Umständen würde überwinden können, der Schwester unter die Kleidung zu fassen. Es gab Grenzen, und zwar in einer jeden Situation.
    »Also gut, was willst du?« fragte Bobeck.
    »Ich komme mit dir«, erklärte Gerda. »Wir werden da gemeinsam durch den Schnee stapfen. Und beklag dich nicht über das Tempo.«
    »Ich weiß, du hast die Kondition eines Mammuts.«
    »Wie schön«, fuhr Reisiger dazwischen, »daß Hänsel und Gretel sich einig sind, mich hier verrecken zu lassen.«
    »Hören Sie zu«, begann Bobeck. »Wenn wir draußen sind, setzen Sie den Computer in Betrieb und geben Anweisung, die Luke zu schließen.«
    »Mit den Fingern?« fragte Reisiger und verkrallte demonstrativ seine Hände.
    »Sie kriegen das schon hin. Dann geht auch die Heizung wieder an. Wenn Sie Lust haben, spielen Sie mit diesem erbärmlichen Rechner. Versuchen Sie, das Kerlchen aus seinem lateinamerikanischen Traum herauszuholen.«
    »Ach wissen Sie, den träume ich selbst gerne.«
    »Wie Sie wollen. Ihre Sache«, erklärte Bobeck. »Jedenfalls sollten Sie hier drin warten, bis Hilfe kommt.«
    »Sie werden sterben. Ich werde sterben. So sieht es aus.«
    Bobeck ignorierte den Pessimismus Reisigers und meinte: »Wir könnten Ihnen etwas von dem Regina hierlassen. Falls die Heizung ausfällt, irgendwann wird sie das wohl tun. Auch wenn die Hülle des Bootes praktisch mit jeder Pore das Sonnenlicht einsaugt.«
    »Welches Sonnenlicht?« fragte Reisiger.
    »Eben.«
    Reisiger verzichtete auf das Regina . Er fürchtete eine Aggression, die dann ohne ein Gegenüber würde auskommen müssen. An einem dämonischen oder auch nur durchgeknallten Bordcomputer sich schadlos zu halten hielt er für aussichtslos. Wie denn? In den Bildschirm treten? Lächerlich. Nein, er nahm auch so die Entscheidung hin, daß man ihn zurückließ. Ohnedies war es besser, alleine zu sein. Wirklich alleine. Und nicht etwa mit Gerda Semper alleine.
    Die Geschwister schlüpften in ihre Rettungsanzüge, deren voluminöse, astronautische Ausmaße zwar einen passablen Schutz vor der Kälte suggerierten, aber ein rasches Weiterkommen unmöglich erscheinen ließen. Die beiden würden schon eine Menge Regina schlucken müssen, um diese Sache durchzustehen, zwei nicht mehr ganz junge Menschen, die ja nicht wie dieses Fräulein Smilla in Eiswüsten aufgewachsen waren. Natürlich besaß ein gebildeter Mensch wie Bobeck eine gewisse Kenntnis der grönländischen Geographie, der hiesigen Tierwelt, der Chemie des Eises und der geistigen Zerrüttungen, die ein Zuviel an Leere hervorrief, aber er war nun mal kein geborener Schlittenhundführer. Abgesehen davon, daß hier nirgends Schlittenhunde auf ihn warteten.
    Die Dramatik des Abschieds hielt sich in Grenzen, obwohl doch recht wahrscheinlich war, daß es ein Abschied für immer sein würde. Zumindest das Diesseits betreffend. Aber auch was den jenseitigen Komplex anging, hielt Reisiger ein Wiedersehen für unwahrscheinlich. Er war überzeugt, daß die Hölle, in die man Bobeck sperren würde, nicht die seine sein würde. Und das wäre dann ein wahres Glück.
    »Noch etwas, was ich für Sie tun kann?« fragte Bobeck, während seine Schwester – ein Magenknurren von Gruß zurücklassend – bereits nach draußen getreten war, hinein in einen Sturm, der blau war. Ja, nicht das Eis oder der Himmel waren blau, sondern der Sturm an sich, welcher dann alles einfärbte, mit einem lichten Blau anstrich, das weder metallisch noch kalt oder wäßrig anmutete, sondern einfach rasant. Als entstünde die Farbe allein aus der Bewegung, aus der beträchtlichen Geschwindigkeit.
    »Ob ich noch etwas für Sie tun kann?« wiederholte Bobeck.
    Reisiger hätte jetzt etwas Ordinäres oder Spöttisches sagen wollen. Aber das verbat er sich, um seine Würde zu erhalten. Er meinte nur: »Sehen

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