Der Umfang der Hoelle
sich in Bewegung setzen. Und da nun mal der Ton abgeschaltet war, entgingen ihm die aufgeregten Kommentare, in denen aber auch so etwas wie Erlösung anklang. Das war ja das Schreckliche, daß jeder Krieg auch eine Befreiung darstellte, eine Befreiung vom Druck, den der Frieden bedeutete.
Es braucht nicht betont zu werden, daß der Krieg Not und Elend hervorruft und in der Regel nicht gerade von den allernettesten Menschen organisiert wird. Wobei freilich auch der Frieden eine Menge Not und Elend nach sich zieht und sich ebensowenig von Heiligen in Szene setzen läßt. Der Krieg ist ein schlagender Vater, der Frieden eine tyrannisierende Mutter. Aber das ist nicht der Punkt. Es geht um das Gefühl der Starre, das die Menschen im Frieden überkommt, als sei die Zeit steckengeblieben, nicht nur die Zeit, ein jedes Ding, eine jede Person. Als sei auch der schönste Frieden ein Stillstand, den auf Dauer niemand aushalten könne. Wie ja auch Pausen nur erträglich sind, solange sie auch wirklich Pausen bleiben, also eine endliche und übersichtliche Dauer besitzen. Man stelle sich eine Pause zwischen zwei Akten, zwischen zwei Halbzeiten, zwischen zwei Liedern vor, die nicht endet. Eine Warten-auf-Godot-Pause. Fürchterlich.
Der Krieg, der soeben in Reisigers Rücken begonnen hatte, war zwar ein weit entfernter, aber eben auch diese weit entfernten Kriege – waren sie nur bedeutend und einschneidend und weitreichend genug – gaben einem das Gefühl, eine Pause sei zu Ende gegangen, so daß sich die Zeit und damit auch die Welt wieder in Bewegung setzen konnte. Darum also dieser leise, verschämte Ton der Erleichterung in den Stimmen der Berichterstatter.
Nun, davon bekam Reisiger nichts mit. Er gab sich völlig dem Anblick des Mondes hin, der etwas von einer papierenen Hülle an sich hatte, die aber nicht lampionartig von innen heraus leuchtete, wie man dies zumeist in der Nacht empfand, nein, dieser Mond stand im Licht wie ein Gesicht, das in die Sonne gehalten wird. Und genau das war ja auch der Fall.
Allerdings wirkte er größer und näher als üblich. Als stünde er tatsächlich über genau diesen Bergen. Einen solchen Mond hatte Reisiger noch selten gesehen. Nicht minder wichtig war ihm dabei die Art und Weise der Betrachtung. Die momentane war ihm die liebste. In einem Zimmer stehend, ohne die Hilfe eines Teleskops, den Blick beinahe gerade auf jenen Trabanten gerichtet. Frei von Poesie. Frei von Esoterik. Denn wenn man von Rubens und der ganzen Kunstgeschichte einmal absah, gab es wenig, was Reisiger so sehr verabscheute, wie die Vereinnahmung des Mondes durch Menschen, die immer irgend etwas oder irgend jemanden für ihr Unglück, ja sogar noch für ihr Glück verantwortlich machten. Leute, die sich mit gezeitenabhängigen Wassermassen verwechselten und eine bestimmte Mondphase zum Anlaß nahmen, ein bestimmtes Verhalten an den Tag zu legen oder ein bestimmtes Gefühl zu entwickeln. Ja statt nein zu sagen, ihre Haustiere umzubenennen, sich die Haare schneiden zu lassen oder den Therapeuten zu wechseln. Und denen es gelang, selbst noch das Auftauchen oder Verschwinden entzündeter Talgdrüsen der Einflußsphäre des Mondes unterzuschieben. Als wollte man die Sattheit, die man einer Scheibe Brot verdankt, einer am Tisch stehenden Blumenvase zuordnen, weil sie halt gar so hübsch aussieht.
Reisiger kannte und verachtete sie, diese Charaktere, die, nachdem sie im Antlitz ihrer heranwachsenden Kinder eine gewisse optische Ähnlichkeit zu sich selbst konstatiert hatten, dazu übergingen, diesen trockenen Umstand in einen lunaren Zusammenhang zu stellen. Als sei der Mond also nicht nur für Wunder, sondern auch für Banalitäten verantwortlich. Nicht minder idiotisch empfand Reisiger die höchst populäre Anschauung, der Vollmond würde große Teile der Bevölkerung in Rage, zumindest in Unruhe versetzen. Weshalb eine jede Wirtshauskeilerei, die in einer solchen Nacht geschah, mit einem Mal einen übersozialen Hintergrund besaß.
All diese Dinge waren für Reisiger reinster Humbug. Seine Liebe zum Mond galt alleine dem Objekt, dem Himmelskörper, der deutlichen Masse am Firmament. Vor allem natürlich auch der Möglichkeit, diese Masse relativ genau betrachten und studieren zu können. Wofür sich Reisiger durchaus diverser Fernrohre bediente, so wie er auch Sternwarten aufsuchte, Mondkarten studierte, ein kleines, nicht ganz billiges Stück Mondgestein besaß und über eine große Sammlung einschlägiger
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