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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Es ging ja nicht nur um das Vermögen, die Abermillionen, um die er sich selbst soeben gebracht hatte, es ging um den Wettschein als solchen, um die beiden Papiere, die Reisigers Triumph hätten dokumentieren können und die jetzt nichts anderes waren als Ruß auf einer steinernen Fläche.
    Aber es versteht sich, daß Reisiger gar nicht anders hatte handeln können. Und wie um sich selbst zu bestätigen, das einzig Richtige getan zu haben, nickte er fortgesetzt in den Raum hinein, gleichmäßig wie ein Tier, das ein Loch gräbt. Ja, es war ein Loch, welches Reisiger nickenderweise in die kalte Luft bohrte. Und es war nun auch dieses Loch, durch das er gleichsam entkam.
    Er nahm seine Brille ab und deponierte sie in einem schwarzen Etui, das er in der Innentasche seines Jacketts neben seinem Kugelschreiber unterbrachte. Daß er unter Weitsichtigkeit litt, erschien ihm wie eine symbolische Gabe, wenn man bedachte, wieviel Zeit er investierte, einen weit entfernten Körper im Auge zu behalten. Um freilich Lottoscheine auszufüllen oder sie auch nur zu betrachten, bevor sie in Flammen aufgingen, bedurfte es der ausgleichenden Kraft seiner Augengläser. Nun, damit war es jetzt vorbei.
    Reisiger schlüpfte in einen schweren, dunklen Mantel und warf sich einen Schal um, der ihm – überrascht von der Kälte, die vor Ort herrschte – von der Rezeption zur Verfügung gestellt worden war. Ein wenig empfand er den Schal als Schlinge. Als eine bequeme Schlinge, das schon.
    Er trat an die Schwelle zum Vorzimmer und blickte noch einmal zurück in den hohen Raum, um eigentlich so gut wie nichts zu erkennen, am ehesten die aufgetürmte Bettwäsche. Keinesfalls aber das noch immer laufende Fernsehgerät. Denn während Reisiger zuvor dem Bildschirm dauernd den eigenen Rücken zugewandt hatte, war es nun das Gerät, das mit seiner hinteren Verschalung zu Reisiger stand. Es sollte sich übrigens zeigen, daß Reisiger auch im Fortlauf dieser Geschichte ungewollt immer im Rücken von oder mit dem Rücken zu sämtlichen Fernsehgeräten, die seinen Weg kreuzten, zu stehen kommen würde. Beziehungsweise würde seine Blickrichtung, seine Konzentration und seine akustische Wahrnehmung stets so geartet sein, daß ihm dieser Krieg verborgen bleiben mußte. Weder verschlief noch ignorierte er ihn, sondern er übersah und überhörte ihn aus purem Zufall. Weshalb auch auf diesen Krieg im speziellen nicht eingegangen werden kann. Er blieb im Dunkel verborgen. Nicht anders als die Vasen und Möbel, nicht anders als das breite, kalte Bett und der breite, kalte Kamin.
    Reisiger ging hinunter ins Foyer, das naturgemäß noch um einiges höher aufragte als die Gästezimmer. So hell es auch draußen werden mochte, hier drinnen stand man wie unter einem bedeckten Nachthimmel. Immerhin, im Kamin schien tatsächlich ein ganzer Baum zu brennen. Ältere Männer saßen schweigend davor, mit morgendlichen Drinks ausgestattet. Ihre Gesichter glühten. Vor diesem Hintergrund durchquerte ein sehr viel jüngerer Mensch die Halle, ein Paar kurze, weiße Ski geschultert, als entführe er eine steife, schlanke Braut.
    Reisiger griff automatisch nach einer Zeitung, die er im Stehen ausbreitete, sich für den Inhalt aber so wenig interessierte wie zu Hause für seine abonnierten Exemplare. Er schenkte nicht einmal den Fotos Beachtung, sondern blätterte wie in einem Gestrüpp, durch das er sich – achtlos gegen Details – hindurchkämpfte. Man hätte ihn für einen ungeschickten Agenten halten können. Schlußendlich faltete er die Seiten wieder zusammen, fuhr damit durch die Luft, als verscheuche er eine Fliege, legte das Papier ab und trat hinaus in die Kälte, die sich auf seine Haut legte gleich einer Gesichtsmaske aus Gurkenscheiben.
    Er stieg die gestreuten Stufen runter, trat auf den breiten Gehweg, an dessen Rändern harter Schnee kleine Hügel bildete. Dahinter öffnete sich der vereiste See, auf dem erste Spaziergänger zu sehen waren, pärchenweise, wie es schien. Wahrscheinlich mußte man ein Pärchen sein, um die Unsinnigkeit zu treiben, auf gefrorenem Wasser zu gehen. Reisiger aber begab sich hinein in die Stadt, in welcher der Begriff des Jet-sets in einer Weise überlebt hatte, wie man das von Bakterien kennt, die durch so gut wie nichts umzubringen sind. Der Ort gehörte zu den vornehmsten seiner Art, nahe der Berge, aber eben nicht mitten drin, wie viele Wintersportorte, die den Eindruck erwecken, in einem einzigen Moment von einem bloßen Kran

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