Der Umweg nach Santiago
thalassa eine unglaubliche Darbietung, ich saß wie angewurzelt in meiner Bank.Für Ordnung sorgen konnte er nicht so gut. Wenn er Aufsicht im Studiersaal hatte, zählten wir halblaut seine Schritte, bis er vorn war und uns mit »felix studium!« begrüßte.
Felix studium! Aufstehen um Viertel vor sechs, danach heilige Messe, dann, noch vor dem Frühstück, eine Stunde Lernen. Und doch muß es in diesen von der Außenwelt noch nicht berührten Stunden gewesen sein, daß die ersten Homer-Texte in mich eindrangen, und noch heute, so verrückt es auch klingt, bin ich fast physisch verliebt in das griechische Alphabet, liebe ich es, einen griechischen Text leise vor mich hinzusagen, selbst wenn mir die Bedeutung der Worte zum Teil entgeht, eine Art von meditativem Gemurmel wie in buddhistischen Klöstern, etwas, dessen Wirkung in keiner direkten Verbindung zu einer Mitteilung steht, einfach Text pur, und ich der Gelehrte, der ihn aufsagt. Und das dazugehörende Gefühl, daß ich ein Leben quasi aus zweiter Hand gelebt hätte, wenn ich, irgendwann einmal, nicht selbst hätte lernen müssen, mich in diese Texte zu vertiefen, die mich noch heute mit allem möglichen verbinden, von den Texten an spanischen Mauern bis hin zu der Figur, die über den Köpfen der Matrosen schaukelt und jetzt, gefolgt von einem ganzen Geleit weißer Boote, aus dem Hafen ausläuft.
In diesem Zustand der Extension gibt es nie einen Zufall, die Tatsache, daß ich hier sitze und sehe, was ich sehe, gehört ebenso zu mir wie die Tatsache, daß ich auf diese Reise die Odyssee mitgenommen habe, die ich so lange nicht gelesen hatte. Es war eine spontane Anwandlung, wie sie einen kurz vor einer Reise häufiger überkommt: Ich griff zu irgendeinem Band, es hätte auch Lukrez sein können oder Vergil, aber nun war es eben dieser, und womit ich nicht gerechnet hatte, war die Rührung in Form echter Tränen, etwas, was mir sonst nur bei äußerst schlechten Filmen passiert, wenn Er Sie zum erstenmal sieht, oder bei einem anderen Urmoment aus der Reihe überschminkter Atavismen. – Rührung bei einem Buch, das war mir lange nicht passiert. Es begann gleich am Ende des ersten Gesangs, bei Eurykleia, die einst, als sie noch jung war, vom Vater des Odysseus, Laertes, fürzwanzig Ochsen gekauft worden und, wie man so sagt, immer in der Familie geblieben war. Sie geleitet Telemachos, den Sohn des Odysseus, zu Bett »mit brennenden Fackeln«. Was ist daran so rührend? Die Abwesenheit seines Vaters, die verdammte Anwesenheit der Freier, die seine Mutter bedrängen und sein Erbe verprassen, die Göttin Athene, die dem Jüngling Mut zuspricht und ihn zu seiner großen Reise ermuntert, die einer Initiation gleichkommt, natürlich, all das. Vor allem aber doch das Bild , die alte Frau, die dem Jüngling vorangeht zu »seinem hohen Gemache / Auf dem prächtigen Hof, in weitumschauender Gegend: / Dorthin ging er zur Ruh mit tief bekümmerter Seele.«
Eurykleia wird nur am Rande beschrieben, und doch ist diese Szene unvergeßlich, und sei es nur aus dem Grund, weil sie so sichtbar ist : »Und er öffnete jetzt die Tür des schönen Gemaches, / Setzte sich auf sein Lager, und zog das weiche Gewand aus, / Warf es dann in die Hände der wohlbedächtigen Alten. / Diese fügte den Rock geschickt in Falten, und hängt’ ihn / An den hölzernen Nagel zur Seite des zierlichen Bettes, / Ging aus der Kammer und zog mit dem silbernen Ringe die Türe / Hinter sich an, und schob den Riegel vor mit dem Riemen. / Also lag er die Nacht, mit feiner Wolle bedecket, / Und umdachte die Reise, die ihm Athene geraten.«
Für die eigene Rührung läßt sich natürlich nie eine Erklärung geben, die auch für einen anderen gälte. Identifizierung, das muß es sein, die Beschreibung hat mich unerbittlich in die Intimität jenes Raumes versetzt, in dem ich nichts zu suchen habe, und aufdringlich und zugleich unsichtbar habe ich an den Gedanken des jungen Mannes teil, der sich am folgenden Tag aufmachen wird, seinen Vater zu suchen. Manche Bilder haben den Wert eines Stempels: Sie versiegeln alle künftigen Versionen der éducation sentimentale , der Vatersuche, der Gralssuche.
Es wird noch stärker, als Telemachos auf der Suche nach seinem Vater an den Hof Menelaos’ kommt, der aus dem Trojanischen Krieg heimgekehrt ist und vielleicht Neues über Odysseus weiß. Hier sitzt einer, der den Vater gekannt hat, der aber nicht weiß,daß dessen Sohn ihm gegenübersitzt. Das weiß nur der Leser,
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