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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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der Zuhörer, der zusammen mit dem Sohn hört, wie liebevoll der Vater beschrieben wird, wie das Schicksal des Sohnes, der neben dem Sprechenden sitzt, ohne daß dieser es weiß, beklagt wird. Gerade dieses Nichtwissen macht seine Worte wahr, und in diesem Fall ist die Wahrheit Anlaß zur Rührung: »Also sprach er, und rührte Telemachos, herzlich zu weinen. / Seinen Wimpern entstürzte die Träne, als er vom Vater / Hörte; da hüllt’ er sich schnell vor die Augen den purpurnen Mantel, / Fassend mit beiden Händen.«
    In dem knappen Zentimeter Weiß zwischen dem vorigen Absatz und diesem stehe ich an jenem Kai auf, sehe in der Ferne die Schiffe die Hafeneinfahrt verlassen, hinausfahren aufs tiefschwarze Meer voller Gefahren, vor denen die Fischer sich Schutz von der Frauengestalt erhoffen, die sie mitführen, wie auch Menelaos beschützt wurde von Eidothea, »des grauen Wogenbeherrschers Proteus’ Tochter«. Ich warte ihre Rückkehr nicht ab, sondern fahre über den Puerto de Pajares die hundertfünfzig Kilometer nach León. Abends sehe ich sie wieder im Foyer des Hotels, wo ich zwischen den anderen namenlosen Gästen fernsehe. Bestimmt zehn Mal sehe ich sie, an den verschiedensten Stellen der unendlich langen spanischen Küste ist sie in immer wieder anderer, sich stets ähnelnder Gestalt aufs Meer hinausgefahren, bei Murcia und bei Cádiz, in Galicien und Katalonien, hier ist Homer noch sehr nahe, nur die Namen sind andere geworden.
    León. Hier bin ich viele Male gewesen. Von Norden über die hohen Pässe kommend, aus Asturien, von wo die Heere der christlichen Könige anrückten. Von Osten und von Westen, auf der Pilgerstraße nach Santiago. Und von Süden, aus der leeren Hochfläche Kastiliens zwischen Ebro und Duero, aus der um das Jahr 1000 Al Mansur auftaucht, die Geißel, ein Name, der hier auch heute noch ein Fluch ist.
    Einst lag in León die siebente Legion des Römischen Reiches, der die Stadt ihren Namen verdankt, Legio Septima, gegründetetwa zur Zeit von Neros Tod im Jahr 68. Die Adler der Legion sehen den Krieg in Ungarn, Kleinasien, in den Alpen, in Mauretanien, bis sie schließlich im dritten Jahrhundert die einzige und letzte Legion in Hispania wird, Hüterin des Goldes und Schutz für die Goldtransporte von El Bierzo im Norden. Zu diesem Zeitpunkt sind die einzelnen Stämme bereits unterworfen und zwangsweise zusammengeführt, Latein legt sich über ihre früheren Sprachen, wodurch die Geschichte des Christentums einer Bevölkerung zugänglich wird, die sich den römischen Göttern noch nicht verschrieben hatte.
    Bereits im dritten Jahrhundert sind León und Astorga Bistümer. Die neue Religion brachte eigenartige Wörter mit, wie Liebe und Gleichheit, und die verstanden die Unterdrückten und die Sklaven sehr gut. Rom trug seinen eigenen Untergang in sich. Es waren diese Christen, die sich vierhundert Jahre später einer anderen neuen Religion, dem Islam, entgegenstellten. Nach dem Ende des Römischen Reichs geht der Hexentanz los, Einfalle germanischer Stämme, die rätselhafte Wanderbewegung von Menschen, die bis weit über die Pyrenäen strömen, Alanen, Sueben, Vandalen, Pest und Hunger, die ersten Märtyrer, Christenverfolgungen, dann die Westgotenkönige und ihre Bekehrung, und wieder das Christentum.
    Man muß schon ein besonderes Interesse an Dynastien haben, um den folgenden Reigen mitzutanzen. Die asturischen Könige verlagern den Sitz ihrer Macht von Oviedo nach León. Zu jenem Zeitpunkt ist diese Ecke Spaniens zusammen mit Navarra der einzige Landesteil, der nicht von den Arabern besetzt ist. Wer aber waren sie, wo kamen sie her? Der erste, den wir namentlich kennen, ist Pelayo, der 714 die Reconquista einleitet. Aber davor? Stammesführer, Großbauern, lokale Größen, Männer, die sich an die Macht kämpfen. Erst nach Pelayo wird die bis dahin verworrene Linie der asturischen Monarchie und der nachfolgenden Geschlechter in León und Kastilien klarer. Eine solche Dynastie sieht graphisch dargestellt immer wie eine auf den Kopf gestellte Pyramide aus. In Wirklichkeit handelt es sich dabeinatürlich um ein Gebilde aus Fleisch, an dessen Spitze der letzte Machthaber steht, auf den Toten, die ihn mit ihrer verwirrenden Folge von Bündnissen und Heiraten hervorgebracht haben. Man sieht, wie sich ihre Wappen, Schilde, Felder ineinanderschieben, einklinken, und weiß, daß jede Bewegung Paarungen und Geburten darstellt, Liebe zwischen Interessen, aber doch immer mit echten Menschen

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