Der Umweg nach Santiago
leise Stimmen, in dem Stein an der Mauer sehe ich zwei apokalyptische Reiter, die aufeinander zureiten, ich denke an die Bombe der ETA , die gestern neun junge Männer getötet hat, an die Mauren auf dem Hügel, an die Sozialisten, die damals geschlagen wurden und heute mit einer Mehrheit ins Parlament eingezogen sind, an die Zeugnisse aus diesen letzten, bitteren Kriegen, und dann wieder an jene früheren, an die die Erinnerung verblaßt ist, an den König, der diese Kirche erbaute, an Beatus und seine Bilder, die Christen im Norden, die Araber im Süden, den Lärm des Krieges, der anschwillt und wieder erstirbt. Geschichte, alles, was der Fall war. Nichts steht für sich im Raum.
1986
D IE V ERGANGENHEIT IST IMMER GEGENWÄRTIG UND NICHT GEGENWÄRTIG
Es passiert auf jeder Reise, oder besser gesagt: Es passiert mir auf jeder längeren Reise. Die Zeit, die ich von zu Hause weg bin, stockt, erstarrt, wird eine Art Massiv, ein merkwürdiges Etwas, das sich hinter mir schließt. Dann bin ich fort, gehorche anderen Gesetzen, dem Reisen, dem berauschenden Element des nirgends Dazugehören, dem Sammeln des Andersartigen. Ich habe ein Wort dafür gesucht, und ich kann es nicht anders ausdrücken als so: Ich extendiere . Nach Spinoza ist dies eines der beiden Attribute Gottes, das heißt, ich muß vorsichtig sein, und trotzdem. Ich dehne mich mit dem aus, was ich aufnehme, sehe, sammle. Das ist kein höheres Wissen, eher ein Angeschwemmtwerden und Sichfestsetzen von Bildern, Texten, von allem, was auf der Straße, im Fernsehen, aus Gesprächen, aus Zeitungen auf mich zuströmt und an mir oder in mir hängenbleibt. Ich kann natürlich auch einfach sagen, ich werde dicker, schwelle an durch eine Unzahl von Trivialitäten, halben Gedanken, Nachrichten aus der Provinz, ich der ich zufällig gerade bin, aber ich muß doch zusehen, wie ich mit dieser extendierten, dicker gewordenen Person umgehe, einem etwas aufgeblasenen Typen, der nichts mehr von zu Hause weiß und sich für eine Weile woanders aufhält.
Woanders. Das ist das Zimmer in irgendeinem Hotel in León, der Hauptstadt der Region zwischen Asturien und Kastilien, dem Burgenland. Ein Steinfußboden, Blick auf einen Innenhof und eine Reihe verfallener Mietshäuser, undifferenzierte Formen von Lärm in steinernen Räumen (dadurch unterscheidet sich das spanische Fernsehen völlig von dem anderer Länder, man hört es bereits von der Straße aus), ein Bett, dessen Matratze zum Erdmittelpunkt drängt, mein Koffer, irgendein Bild mit einem Kind und einer Blume, auf perverse Weise vom Talentmangel zeugend, der solchen Bildern eigen ist, ein Tisch mit meinen Sachen , Zeitungsausschnitten, Notizen, Landkarten.
Der Rest meiner Extension steckt in meinem Kopf und wirddort gehegt und gepflegt, denn ich gehe nun einmal davon aus, daß auch das geringste unter den irdischen Dingen das große Ganze widerspiegelt, daß die Struktur des Daseins sich ebensogut in einer Seite mit lokalen Todesanzeigen manifestiert wie in den Bemühungen mancher Philosophen, ein Fangnetz über die sogenannte Wirklichkeit zu spannen. Die Vorteile für den frei schwebenden Geist liegen auf der Hand. Ich darf die Jungfrau Maria in einem Atemzug mit Homer nennen, den toten Borges mit einer seltsamen Rechenaufgabe, und ein Stockfischrezept mit einer Betrachtung über Ketzerei, und all das werde ich auch tun. Schließlich habe ich ein Zimmer und eine Schreibmaschine.
Die Jungfrau Maria und der blinde Dichter, das ist einfach. Als katholisch Getaufter habe ich natürlich eine richtige Vergangenheit mit ihr, die dann auch mit der Taufe beginnt, denn ich heiße C . J . J . M . Nooteboom, und dieses M – das kann jeder Antipapist einem erzählen – steht für Maria. Ich habe diesen Namen immer bei mir. Außerdem war ich Zögling einer Klosterinternatsschule, des Gymnasiums Beatae Mariae Immaculatae Conceptionis, ihrer unbefleckten Empfängnis. Unsere Wege haben sich inzwischen getrennt, doch sie gehört zu meinem Erbe, und in den Ländern, die ich gern besuche, tritt sie in den eigenartigsten Manifestationen auf, wir begegnen uns also regelmäßig. Gestern erst, bei meinem Abschied von der Küste.
Ihre Festtage habe ich nicht alle im Kopf, aber in dem Dorf, in dem ich mich am Kai hingesetzt hatte, bevor ich durch die Berge südwärts, nach León, fahren wollte, war viel Volk auf den Beinen, und ich kam genau im richtigen Augenblick, um ihre Einschiffung mitzuerleben. Es war María del Carmen, Maria vom Berg
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