Der Umweg nach Santiago
weiterschwelt. Dämmrig ist es in dieser Krypta, es kommt einem vor, als wären nicht nur die Fresken fast tausend Jahre alt, sondern auch die Luft selbst, ein Alter, das eine besondere Art von Stille hervorgebracht hat, wodurch alle Geräusche, die man macht, zuviel scheinen. Hie und da stehen Sarkophage, einige ohne Wort oder Schmuck, andere mit einer geschraubten Schrift bedeckt, in der man bisweilen einen Namen erkennen kann, die mir aber darüber hinaus ihre Geheimnisse nicht preisgibt, versteinerte, verspätete Briefe, deren Geheimcodes nur Gelehrte kennen. Es sind nicht viele Besucher da, wir schieben uns langsam durch diesen niedrigen Königssaal wie Eindringlinge, fahren mit den Händen über die glänzenden Lettern und schauen zu dem Gewölbe so dicht über uns, auf die Engel und Hirten mit ihren einfältigen Heiligengesichtern, auf den Tierkreis, der mit den Gewölbebögen anschwillt und schrumpft, auf die Wut der kämpfenden Böcke und den Wolf, der von der Milch trinkt, und auf die ebenfalls von Wellen umrahmte Mandorla mit dem Pantokrator. Wände und Gewölbe werden die Seiten eines Buchs mit karolingischen und orientalischen Echos, im Gehen lesen wir, schlagen die pergamentenen Seiten um und rekapitulieren die uns bereits bekannten Geschichten, Abendmahl und Auferstehung des Lazarus, Kindermord und Kreuzigung, die apokalyptische Vision des Tetramorphs, des geflügelten Fabeltiers, die noch immer nichts vom Schauer Hesekiels verloren hat: »Und ich sah, und siehe, es kam ein ungestümer Wind von Norden her, eine mächtigeWolke und loderndes Feuer, und Glanz war rings um sie her, und mitten im Feuer war es wie blinkendes Kupfer. Und mitten darin war etwas wie vier Gestalten; die waren anzusehen wie Menschen. Und jede von ihnen hatte vier Angesichter und vier Flügel.« Ein Buch schreibt ein Bild, und das Bild verweist wieder zurück auf das Buch, das ist die Widerspiegelung, in der diese Gruft mich gefangenhält. Draußen weiß ich die Stadt, ich kann gehen und wieder zurückkehren, wie ich es nun schon so oft getan habe, und immer wieder werde ich diesen Raum finden, das Buch, das man nie ausliest.
Es war König Ferdinand I ., der die Reliquien des heiligen Isidor nach León brachte. Über die mysteriöse Fetischmacht von Beinen und Schädeln, Knochen und Haaren im Mittelalter ist schon genug gesagt worden, aber hier hatte dieser König wohl ein ganz besonderes Meisterstück vollbracht, denn nicht genug damit, daß er seiner Stadt und seiner Linie damit eine gotische Legitimation gab (Isidors Mutter war vermutlich eine Tochter des Ostgotenkönigs Theoderich), durch die Beschaffung dieses Wunders der Wissenschaft schien es nun auch noch, als sei eine direkte Linie zur römischen Antike zustande gekommen. Für einen Menschen des Mittelalters stand nämlich fest, daß in dem 560 in Cartagena geborenen Isidor das gesamte Wissen der antiken Welt gesammelt war, durch die endlose Reihe von Büchern, die der schreibende Bischof hinterlassen hatte ( Etymologiae, Sententiae ) war sein Ruhm in den darauffolgenden Jahrhunderten nur noch gewachsen.
Oben, in der romanischen Kirche, die seinen Namen trägt, habe ich Zeit, über alles nachzudenken. Westgoten, Schriftgelehrte, die Geheimnisse des Tetramorphs, Löwe, Stier, Adler, Mensch, die in der Apokalypse die vier himmlischen Gestalten genannt werden, die Kirche rings um mich, die Königsgräber unter mir, die sich ineinander spiegelnden Verweise, die hier drinnen so machtvoll sind und gleich, draußen auf der Straße, im Getriebe der Welt ihre Gültigkeit verloren haben werden, wiewohl diese Welt ohne diesen Ursprung so nicht existieren würde, und doch, als ichdann ins Freie trete, kommt es mir vor, als fiele ich durch eine Luke ins Licht, helles Licht, aber auch lichtes Licht. Unter mir schlummern die Könige, fliegt das vierköpfige Wesen in seinem ewigen Stillstand, ich aber bin von der Flüchtigkeit der aktuellen Welt erfaßt, die aussieht wie eine kleine Provinzstadt, in der nicht viel passiert. Ein paar große avenidas rings um bombastische Denkmäler, wie in allen spanischen Städten, und gleich außerhalb davon, rings um das offizielle Zentrum, das nur aus dem Grund dazusein scheint, um den Bürgern das Gefühl zu geben, es sei eine echte Stadt, liegen gewundene Gäßchen, versteckte Plätze, düstere Kneipen, Werkstätten, in denen man Körbe kaufen kann und Sättel und alles, was mit Pferden zu tun hat, Läden mit durchscheinenden Wurstpellen und in
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