Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
Tropfen erstarrten Sirups, winzig kleine exotische Darstellungen von Pflanzen und Tieren in Brandmalerei.
    Ovieda, Santa María del Naranco
    Was für ein Wahnsinn, daß die meisten Menschen in Spanien nicht weiter kommen als bis zum Brennglas der Ostküste. Dreißig Jahre lang reise ich hier schon herum, und nie hat es ein Ende. Es ist ein ganzer Kontinent, der dort hinter den Pyrenäen liegt. Geheimnisvoll, verborgen, unbekannt, ein Gebilde aus Ländern mit jeweils eigener Geschichte, eigener Sprache und Tradition, Jahre sind nötig, um es für sich selbst auszugraben, zu entdecken, mit sich selbst zu besprechen.
    Auch in dieser Kirche gleiten die Zeiten und Stile durcheinander, wer kennt die Bilder Sebastiano Concos, das verschleierte Fresko Francisco Bustamentes in der Kuppel der Sakristei, das Zepter Enrique de Arfes, die barocken Altaraufsätze Juan de Villanuevas? Und das ist erst die Kirche einer einzigen Stadt, irgendwo weit im Westen, für die meisten abseits des Weges; und selbst in dieser Stadt ist es nicht die schönste, denn die liegt außerhalb, in den Hügeln, eine der ältesten christlichen Kirchen, die es heute noch gibt, Santa María de Naranco, einst unter der Herrschaft Ramiros I . (841-850) als aula regia erbaut und noch zu seinen Lebzeitenin ein Gotteshaus umgewandelt. Zwei Kirchen liegen hier dicht beieinander in jenen Hügeln, aus derselben Zeit, beide im vorromanischen, asturischen Stil.
    Es ist noch früh, als die Führer in mich in die Santa María einläßt, im Tal hängen Nebelschleier, in der Ferne liegt Oviedo. Das Bauwerk ist hoch, trotz der großen, rohen und sehr ungleichen Sandsteinbrocken, aus denen es errichtet wurde, macht es den Eindruck luftiger, äußerster Anmut. Was waren das für Könige? Woher bezogen sie die Vorbilder für ihre Gebäude? Dies hier erinnert eher an die Pracht von Rom, die lichte Anmut der zweimal durchbrochenen Fassade spottet der Düsterkeit des Mittelalters, ich kenne eigentlich kein Gebäude, das diesem gleicht. Unten sind Bäder »für die Wächter«, da sind die Räume eher fundamental und solide, aber oben, wohin man nur über eine Außentreppe an der Nordseite gelangt, ist es, wie die Führerin so schön sagt, diáfano , durchscheinend.
    Sie hat recht, das Bauwerk ist aus Stein und doch durchscheinend, Licht und Luft können es durchdringen, werden aber auch dadurch verändert, berührt, und diese Veränderung überträgt sich auf den Besucher, er befindet sich vorübergehend in einer anderen Art von Licht, in einer anderen Luft, es macht ihn meditativ, aber auch ausgelassen, froh, erfreut über Dinge, die erhalten blieben, um etwas zu erzählen und zugleich Rätsel aufzugeben. Die Führerin wendet sich einem neuen Besucher zu, und ich setze mich auf die westliche Galerie und blicke auf die Stadt, die dort in der Ferne liegt, die Stadt der asturischen Könige, und denke so etwas Unbestimmtes wie: Hier war es also, hier wurde etwas erdacht, verändert, aufgehalten, aber es ist zu fern, zu verschwommen, überlagert von Schichten einer wieder anderen Geschichte, die mit der früheren zusammenhängt und doch wieder nicht, eine Geschichte, die sich nur fünfzig Jahre zuvor abgespielt hat, als der gegen die Republik rebellierende Oberst Aranda mit 3000 Mann das faschistische Oviedo gegen die von allen Seiten anstürmenden asturischen Bergarbeiter verteidigen mußte.
    »Fuego, fuego,
    Entrar a Oviedo
    Coger a Aranda
    Y echarlo al agua«,
    sangen die Kinder zur Melodie einer Schokoladenwerbung, »Feuer, Feuer, in Oviedo einziehen, Aranda packen und ins Wasser werfen ...«
    Aber Aranda hatte hundert Hotchkiss-Maschinengewehre, mit denen er einen »Feuervorhang« über die Hügel ringsum legen konnte, er hielt einer Belagerung stand, die neunzig Tage dauerte und Tausenden das Leben kostete. Er sah seinen Vorposten auf dem Berg Naranco fallen, die Soldaten der Republik befanden sich bereits in den Außenbezirken der Stadt, als plötzlich der Ruf ertönte, der fast so alt war wie Spanien: Moros! »Moros en la cuesta!« , Mauren auf dem Hügel, und die marokkanischen Truppen Francos, vom Berg Naranco kommend, bei der Kirche, wo ich jetzt sitze, in die Stadt einmarschierten. Es war neblig an jenem Tag wie so oft im nördlichen Asturien, und aus diesem Nebel drang noch am selben Abend, mit blutigen Bajonetten, die Vorhut der galicischen Truppen, die die Stadt befreien sollten. Leichter Nebel, derselbe, ein anderer, wallt über der Ebene, aus der Kirche erklingen

Weitere Kostenlose Bücher