Der Umweg nach Santiago
Akute fehlt. Namen, echte Daten, Schlachten, Verwicklungen, alles ist unsichtbar geworden, und eigentlich kommt es einem so vor, als hätte die Vertreibung aus dem Paradies erst danach stattgefunden, als wäre ein ländliches, friedliches Leben geführt worden, mit Jagen, Töpfern, Fischen, ein ausgedehntes Dasein in einer großen, alles umfassenden Stille. Namenlose Menschen meiner eigenen Spezies lebten ein nicht aufgezeichnetes, nicht wahrgenommenes Leben auf Erden, die nach ihnen Kommenden mußten erst graben, um ihre Spuren zu finden.
Schalen aus Ton. Sie stehen so still in den Vitrinen, erst noch ohne jegliche Verzierung, dann hat eine menschliche Hand doch mit einem Zweig einen Kratzer hineingeritzt, den Kratzer wiederholt, ein kleines Muster, eine Struktur, geometrische Linien, Kunst. Konnten sie das alle, oder gab es nur einen in der Siedlung? Keine Ahnung hatten sie davon, daß sie vor Christus lebten, sie saßen da, machten ein Feuer, tranken oder aßen aus dieser Schale. Man sieht diese Schalen in allen Kulturen. War dies eine Form, die sich von selbst aufdrängte, eine natürliche Ergänzung zum menschlichen Mund? Wir können zum Mond fliegen, aber die Form von Schalen hat sich nicht grundlegend verändert.Ich habe, denke ich, solche Schalen in Afrika gesehen, aber da waren sie keine 3000 Jahre alt. Mit aller Kraft will ich ihnen ihr Alter ansehen, und das gelingt mir auch, weil ich weiß , daß es wahr ist. 3000 Jahre wütender, turbulenter Ereignisse haben diese Tonschale unberührt gelassen, sie ist unversehrt, gebrauchsfertig. Ich könnte sie aus der Vitrine stehlen und mit nach Hause nehmen, nicht, um sie für viel Geld zu verkaufen, sondern um hinter verschlossener Tür daraus zu trinken, um damit die Kontinuität meiner Gattung zu beweisen, und auch ein wenig, um über den unbekannten Töpfer nachzudenken.
Paleolítico Inferior, Paleolítico Superior. Mit jedem Schritt bewege ich Jahrhunderte, mit aufreizender Mühelosigkeit vollziehe ich den Übergang von Stein zu Bronze, von Bronze zu Eisen, blicke auf die ersten verzierten Grabsteine der, wie es im Spanischen so schön heißt, reyezuelos , kleinen Könige – und ich sehe sie vor mir, so groß wie Kinder, Kobolde mit Kronen auf dem Kopf. Später entnehme ich meinem Wörterbuch, daß reyezuelo auch Zaunkönig heißt, und das erscheint mir durchaus passend, Könige, die hinter den hohen Zäunen der Vorzeit verschwunden sind. Aber immer ist es anders, als ich denke. Die Vitrinen sind hell und übersichtlich eingerichtet mit Klassifikationen und Fundstätten, über all diesen Gegenständen schwebt die Geduld und damit die Liebe der Finder, die Suchende waren, bevor sie fanden, was sie suchten. Archäologen, Menschen, die verzweifelt am Hahn der entferntesten Vergangenheit drehen, um zu sehen, ob etwas herauskommt. Nur die Gegenstände sind da, die Welt, die um sie herum existiert hat, scheint unwirklich, weit weg, und gleichzeitig liegen 3000 Jahre nun auch wieder nicht so sehr weit zurück. Es ist unausbleiblich – in 3000 Jahren werden wir nicht mehr wiederzuerkennen sein.
Die ersten Münzen. Hannibal, Hasdrubal, Hamilkar. Langsam hört es sich vertraut an. Gymnasium, Unterricht in Alter Geschichte. Meine eigene Erinnerung ist damit bereits verwoben. Aber dieses andere, das Fiktive, die Phantasie, ist doch stärker. Wer hat diese Geldstücke in der Hand gehabt? Geld sieht merkwürdigunverwüstlich aus, solange es aus Metall besteht. Ist es durch tausend Hände gegangen oder nur durch hundert? Was wurde damit bezahlt? Sold, Huren, Wein? Grabrechte, Togen, Waffen, Pferde, Brot? Aber Geld berührt einen nie, vielleicht, weil es auch in materiellem Sinn zum Spekulieren verführt. Nein, dieses andere, das gleichzeitig entsteht, diese merkwürdigen Striche, die sich kreuzenden, geraden, eckigen, seltsamen Linien, Schrift , nagelartig, spitz, in Zeichen abstrahierte Sprache, der lange, unaufhaltsame Weg jener in Stein geritzten Signale bis zu den Buchstaben auf den Tasten meiner Schreibmaschine, das verschlägt mir den Atem. Der beschriebene Stein steht hinter Plexiglas und beraubt mich so des Vergnügens, meine Finger langsam darüber wandern zu lassen, als könnten sie diese von Menschenhand gemachten Kerben aus eigener Kraft entziffern.
Ich bleibe Stunden in diesen stillen Sälen und sehe, wie die Geschichte sich auftürmt, bekannter wird und sich gleichzeitig entfernt. Ein Jahrhundert läßt sich nicht in einen Saal zwängen, und doch tut man
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