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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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es hier. Anhand von Grabsteinen, Geldstücken, Didrachmen aus Neapel und Syrakus, Tetradrachmen aus Athen, Mosaiken, Tonscherben wird mir der bekannte Weg vorgegaukelt, das Klischee der Vergangenheit, wie ich sie gelernt habe. Doch das Erhellte wird durch das verdunkelt, was weggelassen wurde – Düfte, Stimmen, Lebende. Es sind, buchstäblich, nur Überbleibsel, die eine Abwesenheit sichtbar machen. Durch all diese materielle Evidenz hat es für einen Moment den Anschein, als könne man die Vergangenheit besitzen, haben, doch das Heute bekommt von der Vergangenheit nur das, was es selbst auswählt, und dann ist es wieder das Heute, um das es gerade geht, weil jede Zeit die Geschichte anders interpretiert. Auch uns wird es einst in diese merkwürdige Abstraktion verschlagen, die Vorstellungen, die wir von uns selbst hatten, werden von den Launen einer späteren Zeit verzerrt werden. Wie einer, der einen Film rasend schnell zurücklaufen läßt – wobei alles unsichtbar wird –, gehe ich jetzt in umgekehrter Richtung wieder hinaus undfalle so aus der Vorgeschichte auf die Straße, um Jahrtausende gealtert.
    Vor fast fünfhundert Jahren besuchte ein anderer Niederländer Zaragoza, Papst Hadrian VI ., der letzte Nicht-Italiener vor Wojtyla. Adrianus von Utrecht, wie er hier genannt wird, war Bischof im spanischen Tortosa und wurde beim Tod Leos X . am 2. Januar 1522 zum Papst gewählt. Damals hatte man noch Zeit. In Barcelona lagen Schiffe bereit, den neuen Papst nach Rom zu bringen, doch er wollte erst noch nach Zaragoza, um die Reliquien des heiligen Lambert zu verehren. Am 29. März brach er auf und blieb bis zum 11. Juni in Zaragoza. Er logierte in der Aljafería, dem ehemaligen Maurenpalast, den die Katholischen Könige neu eingerichtet hatten, nachdem die Mauren über den Fluß gejagt worden waren. Auf einem weißen Maulesel ritt er durch die Stadt, mit Erzbischof Don Juan von Aragón und einer Schar aragonesischer Grafen und Ritter. Aus den Chroniken wissen wir sogar, was er trug, eine »bonete de terciopelo carmesí con armiños y un capelo de la misma tela con cordones de oro y seda roja« , eine karmesinrote Samtkalotte mit Hermelinbesatz und einen Kardinalshut aus demselben Stoff mit goldenen und rotseidenen Schnüren. Aber damals hatte man nicht nur genug Zeit, sondern auch Menschenkraft. Der Maulesel wurde an der Puerta del Portillo angebunden, und ein unterdessen angefertigter Sessel, der mit rotem Samt ausgeschlagen war und auf der Rückenlehne das päpstliche Wappen trug, wurde von 24 sich abwechselnden aragonesischen Rittern zur Kathedrale getragen. Am 9. April besuchte der Papst die Krypta der »unzählbaren Märtyrer«. In diesem Augenblick ging eine der zwölf Lampen des azofar entzwei, das Öl floß über die päpstlichen Gewänder, »was von allen Anwesenden als schlechtes Vorzeichen gedeutet wurde«. Nicht zu Unrecht, denn er sollte nur sehr kurze Zeit Papst sein und wurde von den Römern bitter gehaßt. Nachdem er die Messe gelesen hatte, »öffnete der Papst das Grab des heiligen Lambert, nahm das Haupt des Märtyrers aus dem Sarg und hob es über seinen eigenen Kopf«. Der Heilige war zu diesem Zeitpunkt bereits816 Jahre tot, doch sein Kopf begann zu bluten und befleckte den Papst abermals, der bereits das Öl der Lampe abbekommen hatte. Mönche fingen das Blut auf und haben es, da Spanien nun einmal Spanien ist, bis heute bewahrt.
    Südlich des Ebro ist die Landschaft anders. Keine Hügel mehr wie geweihte Tiere, sondern ein kahlgeschlagener Planet, gelblich, steinig, unbarmherzig. Auf manchen Feldern hat Korn gestanden, das jetzt gemäht ist. Strohballen wie kubistische Männer markieren den Horizont, ein mechanisches Heer. Dann hebt sich die Welt allmählich, ich lasse das Tal hinter mir und fahre nach Süden, nach Teruel. Es ist leer auf der Straße, die Spanier essen. Eine Zeitlang fahre ich am Río Huerva entlang. Rechts von mir flimmert ein hohes Gebirge in der heißen Mittagssonne. Dann verläßt auch der Fluß die Straße. Cariñena, Daroca, Burbágena, Monreal del Campo. Einst war dies das Kampfgebiet zwischen Christen und Mauren und, in einem viel späteren Krieg, zwischen den Truppen Francos und denen der Republik. Herbes Land, das sich zuweilen unvermittelt zu einem majestätischen Panorama weitet und dann wieder in gequälte Pässe gezwängt wird.
    Ich komme in Teruel zur toten Stunde an. Es ist viel kleiner, als ich geglaubt hatte, die kleinste Provinzhauptstadt Spaniens. Hier

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