Der Umweg nach Santiago
werden die extremsten Temperaturen gemessen. Die Winter dauern lang, die Sommer sind gnadenlos. Im Winter 1936/37 sank die Temperatur hier auf –18D ab. Die Stadt wurde abwechselnd von Republikanern und Nationalisten besetzt. In Blood of Spain von Ronald Fraser wird die ganze Geschichte anhand von Augenzeugenberichten und persönlichen Erinnerungen aus beiden Lagern erzählt. Folterungen, Hinrichtungen, Massaker, Verrat, sinnlose Zerstörung, Desertionen, die hoffnungslose, feindselige Zerrissenheit der Linken, die erbitterten Gegensätze zwischen Kommunisten und Anarchisten, die wichtiger wurden als das Gewinnen des Krieges. Spanien, das sind nicht nur soviel Regionen und soviel Sprachen, das sind auch soviel politischeSekten, und zu bestimmten Zeiten in ihrer Geschichte sind Spanier bereit, sich gegenseitig aus allen möglichen Gründen auszurotten und demzufolge auch für alles mögliche zu sterben. Unter dem bisweilen so glatten äußeren Schein der neuen Demokratie brennt die Wunde dieses Bürgerkriegs noch immer, jeder Tag und jeder Ort sind Erinnerungen für den, der dafür ein Auge hat.
Blood of Spain ist über sechshundert Seiten stark. Wenn ich durch Spanien reise, habe ich es bei mir. Das Ortsnamenregister am Ende ist ellenlang, ich brauche es nur aufzuschlagen, um zu sehen, was für Greuel in diesem scheinbar so friedlichen Ort passiert sind, in dem ich mich im Augenblick befinde. Es ist ein Buch über Jedermann : Geschichten von den kleinen Leuten, den Vergessenen, den Soldaten und Zivilisten auf der richtigen und der falschen Seite, Leben, mit denen Geschichte geschrieben wird.
Aber sieht Geschichte, während sie passiert , auch wie Geschichte aus? Ist es nicht so, daß die kleinen Namen stets unterschlagen werden? Es geht doch um die Ideen, die Interessen und die großen Namen, die späteren Straßennamen, die Namen aus Registern und Enzyklopädien? Denn so viele Bücher mit ›oral history‹ auch erscheinen, in der Regel ist es noch immer so, daß die Opfer als Individuen hinter den großen Ereignissen verschwinden. Man sieht ihre austauschbaren Namen auf Gedenksteinen, auf die fast niemand mehr achtet, sie sind nicht nur körperlich, sondern auch mit ihrem Namen verschwunden.
Nicht so in Blood of Spain. Da ist die Geschichte der Lehrer, der Bäcker, der Faschisten, der Kommunisten, der Beamten, der Anarchisten, der Frauen, der Kinder. Es muß eine unvorstellbare Arbeit gewesen sein, alle diese Menschen aufzuspüren, alle diese Zeugenberichte über Hinrichtungen, Demütigungen, Hungermärsche aufzuschreiben, doch das Resultat ist, daß man in die Scheiße und das Blut dieses Krieges gedrückt wird. Aller Glanz ist ihm abhanden gekommen, man blickt in einen schmutzigen, blutigen Abgrund menschlicher Schlechtigkeit.
Eine Szene an der Front in Teruel liefert ein Brechtsches Bildder Verwirrung, wenngleich Brecht aus politischen Gründen auf diesen Vorfall wahrscheinlich lieber verzichtet hätte. »Es schneite stark. Als sie ankamen, blieb García Vicancos mit den Männern in den offenen Lastwagen, während Saturnino Carod (ein Führer der CNT , der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft, Anm. d. Verf.) ins Haus ging, um Bericht zu erstatten. Um einen Ofen geschart fand er eine Gruppe Männer, die ihm Kaffee gaben.« Sie begannen zu reden. »Es dauerte nicht lang, bis das ewige Thema der Einheit zwischen der Kommunistischen Partei und uns Anarchisten wieder zur Sprache kam.« Carod sagte, das sei eine Sache, die von den Führern der beiden Organisationen besprochen werden müsse. Als diszipliniertes Mitglied der CNT werde er jedem Befehl des Nationalkomitees gehorchen. Aber einer der anwesenden Männer ließ nicht locker, sagte, Carod könne als bekannter Militanter Druck auf seine Führer ausüben, damit sie zustimmten.
»In ihrem Bemühen, mich zu überzeugen, sagten sie, die Zukunft Spaniens liege in der Einheit der Kommunisten mit den Anarchisten, der Krieg werde von diesen beiden Organisationen gewonnen werden. Sie schlugen vor, daß die kommunistische Partei die politische Organisation der anarchistischen Gewerkschaft bilden solle und daß die CNT die Gewerkschaft auch der Kommunisten sein solle ...«
Carod antwortete wieder, dies sei nicht der Augenblick, über solche Dinge zu sprechen. Seine Männer frören draußen, er brauche im Moment lediglich Einsatzbefehle und vor allem die Waffen, die weisungsgemäß für seine Brigade bestimmt seien. Wut stieg in seiner Stimme auf, als einer der
Weitere Kostenlose Bücher