Der Umweg
einmal. Die Schubkarre rutschte, aber mit ganz vorsichtigem Hämmern bekam sie die Krampen dann doch fest. Der Arm tat ihr weh, auch der Fuß meldete sich wieder. Fluchend kroch sie ins Freie und fragte sich, warum sie bloß mit dieser Arbeit angefangen hatte. Sie schleifte die Schubkarre zur Seite, stellte sie wieder auf und sah sich den Verschlag noch einmal genau an. Er machte einen recht stabilen Eindruck, stabil genug, dachte sie, um einen Fuchs abzuhalten. Einen großen Vogel erst recht. Jetzt überlegen, wie sie mit dem letzten Stück des Drahtgeflechts die Öffnung versperren konnte, ohne es festzunageln. Ein knappes Dutzend großer Nägel war übrig. Sechs von ihnen schlug sie im Abstand von etwa zwanzig Zentimetern ins Dach, dort, wo an der gegenüberliegenden Seite das Drahtdreieck auflag. Dann klemmte sie mit dem Saitenschneider kleine Stücke Eisendraht ab und fädelte sie in das Drahtgeflecht, ebenfalls in Abständen von zwanzig Zentimetern. Sie vergewisserte sich, daß die Drähte beim Umschlagen des Geflechts ungefähr bei den Nägeln landeten, erst danach trennte sie das letzte, überschüssige Stück Maschendraht ab. »Scheiße«, sagte sie noch einmal. Sie stank nach Gänsekot, und ihre Hände bluteten.
Die Vögel ließen sich nicht in das Häuschen treiben. Entweder rannten sie in einer Kolonne von ihm weg, oder sie stoben alle in verschiedene Richtungen davon, als wüßten sie, daß es schwierig war, sich zwischen sechs Gänsen zu entscheiden. Die Schafe auf der benachbarten Weide interessierten sich nicht für das Gerenne, die meisten grasten ruhig weiter, nur manchmal blickte eins von ihnen kurz auf. Keuchend raffte sie ein paar kleine Steine zusammen und warf sie nach den Gänsen. »Ihr dreckigen, undankbaren, sturen Mistviecher!« rief sie. »Ich will euch retten, kapiert ihr das denn nicht!« Ein letztes Mal wollte sie es versuchen, ganz ruhig. Die Gänse standen am größten der Teiche, nah beim Häuschen. Sie zündete sich eine Zigarette an und setzte sich ins Gras. Die Vögel kollerten ein wenig, zwei tranken. Nicht zu schnell, dachte sie, erst mal einen Moment gar nichts tun, damit sie Zeit haben, sich an mich zu gewöhnen. Dann stand sie auf und breitete die Arme aus, die Zigarette zwischen den Lippen. Ohne Eile watschelten die Gänse dicht gedrängt vom Wasser fort und am Häuschen entlang. Sie blieb stehen. Auch die Vögel blieben stehen, fünf Meter von der Öffnung mit dem zur Seite gebogenen Drahtgeflecht entfernt. »Rein mit euch«, sagte sie leise. »Na los. Da drin seid ihr sicher.« Sie hörte sich Englisch sprechen und dachte: Ich muß ein Umgehungsmanöver ausführen. Ganz ruhig. Fast lautlos schlich sie hinter den Gänsen vorbei, und diesmal schien sie zu erreichen, was sie wollte. Die Vögel blieben stehen, ein Gedränge dicker Leiber, nur die Hälse und Köpfe drehten sich mit. Jetzt lief sie los, die Arme noch ausgebreitet, auf das Häuschen zu. Ja, dachte sie. Ja. Rauch kringelte ihr ins Gesicht, die Augen brannten, Tränen liefen ihr über die Wangen.
In diesem Moment sauste etwas über ihren Kopf, so nah, daß sie ihre Haare hochwehen fühlte. Eine halbe Sekunde später schlug der rotbraune Vogel mit den Flügeln und segelte kurz darauf über das Haus und in den Wald. Die Gänse standen schon im hintersten Winkel ihrer Weide, ein einzelnes weißes Federchen trudelte zu Boden. Sie ging in die Knie und ließ sich dann seitlich ins nasse Gras fallen. »Warum mache ich das«, sagte sie leise. Sie spuckte die fast aufgerauchte Zigarette aus. »Ich kann das doch gar nicht.«
Ein paar Stunden später lag sie in der Löwenfußwanne. Sie betrachtete ihre Finger. Zog das linke Bein an und pulte die Kruste vom Spann. Kurz danach färbte sich das Wasser am Fußende rötlich. »Und ich kann es doch«, sagte sie. Sie stieg aus der Wanne, trocknete sich ab. Der kleine Spiegel überm Waschbecken war beschlagen, sie sah ihren Oberkörper und Kopf als rosigen Klumpen. Zerstreut schluckte sie mehrere Paracetamol. Auf dem Geländer am Treppenloch hingen ein paar feuchte Sachen, sie hängte das Handtuch daneben. Im Arbeitszimmer war die Schreibtischlampe auf dem Eichentisch eingeschaltet, im Kamin brannte Feuer. Sie stellte sich davor, die Haut auf ihren Oberschenkeln und auf dem Bauch fühlte sich gespannt an. Sie strich über ihre Brüste und schaute Emily Dickinson in die schwarzen Augen. »Du hast es leicht«, sagte sie. »Du bist tot.«
19
Erst ein paar Tage nachdem sie ihr Handy
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