Der Umweg
gebissen.«
»Ausgeschlossen.«
»Es war aber so.«
»Dachse sind scheue Tiere.« Er gebrauchte das Adjektiv shy . Er trat auf die Stufe hinaus. »Also, ich komm wieder«, sagte er, bevor er die Tür hinter sich zuzog.
Er will nicht, daß ich sehe, wie er sich zum Stiefelanziehen bückt, dachte sie. Und lächelte. »Adieu!« rief sie durch die geschlossene Tür, als sie ihn vor der Scheibe abtauchen sah. Mühsam ging sie die Treppe hinauf und legte sich auf die Chaiselongue im Arbeitszimmer. Schloß die Augen. Rhys Jones’ Wagen brauste weg, bestimmt ein großer mit einer Ladepritsche, auf die ein paar Schafe passten. Oder Heuballen, ein Doppelbett. Sie kam nicht in Versuchung, durchs Fenster zu schauen. Zwei Stunden später begann sie den Tag noch einmal, diesmal besser.
20
Das Gras war völlig getrocknet, die Sonne schien. Kaum Wind. Sie schnitt aus Bambusstangen Bambusstöcke und steckte die überall dort in die Erde, wo ein Holzscheit lag. Zwischen den Stöcken spannte sie Bindfaden. Die hellbraunen Kühe standen in einer Reihe an dem Steinmäuerchen und sahen ihr zu. Die Wiese hier lag mindestens einen halben Meter oberhalb ihrer Weide, die Mauer war auf ihrer Seite viel höher. Sie schnaubten. Ohne über irgend etwas nachzudenken, stach sie mit dem rostigen Spaten die Grasnarbe am Bindfaden entlang ab und entfernte konsequent auch alles Gras, das auf der Wegseite im Splitt wuchs. Die abgetragenen Soden transportierte sie mit der Schubkarre am Bach vorbei zur Rückseite des Hauses, wo sie sich bald zwischen den Sträuchern aufhäuften. Dann setzte sie sich auf den Schieferberg. Sie war ein wenig außer Atem, blickte sich um. Was konnte sie als Begrenzung zwischen Gras und Weg nehmen? Die Gänse sahen sie und kamen schnatternd an den Stacheldrahtzaun. Sie warf mit Schieferbröckchen nach ihnen, was die Vögel nicht zu stören schien. Sie hatte nicht genug Kraft im Arm, um die Entfernung zwischen dem Berg Schiefersplitt und dem Zaun zu überwinden.
Im Schweinestall fand sie nur zwei Holzpfähle, deren Länge bei weitem nicht für den ganzen Weg ausreichte. Sie ging noch einmal die Betontreppe in den Keller hinunter und setzte sich auf die unterste Stufe. Der Boden bestand aus grünlichen Steinplatten. Warum war es hier so sauber, fast ohne ein Stäubchen? Als hätte auf diesen Platten eigentlich Wasser stehen sollen. Sie zog Luft durch die Nase ein, roch aber nichts, was sie auf eine Idee brachte.
Das Zuiderbad im Herbst, die weißen Badekabinen, das Butterbrot, das sie aß, wenn sie aus der Kabine kam, die kahlen Sträucher im Garten des Rijksmuseum, in einer Decke aus Nebel, der Lärm der Autos auf Stadhouders- und Hobbemakade. Sie dachte an ihre Eltern, an die Wohnung im Obergeschoß eines Hauses in De Pijp, sah ihre Mutter das Schwimmbadbrot schmieren, Kartoffeln kochen, sah die Fensterscheibe in der schmalen Küche beschlagen, alles im grellen Licht der Leuchtstoffröhre. Dort wohnten sie noch heute, hatten jetzt Zentralheizung, einen schlichten Laminatboden, eine neue Kücheneinrichtung und einen Fernseher, der für das kleine Wohnzimmer viel zu groß war. Und eine Nachricht von ihrer Tochter. Sie hatte immer wieder angerufen, bis einmal niemand zu Hause war und der Anrufbeantworter sich einschaltete – ihr Vater, der nur seinen Nachnamen nannte. »Ich wollte kurz Bescheid sagen, daß ich weg bin. Macht euch keine Sorgen. Wirklich.« Dieses »wirklich« ärgerte sie immer noch, das war völlig überflüssig gewesen. Heimweh war manchmal angenehm, manchmal nicht. Es konnte einen ganz schlapp machen, so schlapp, daß einem zehn Betonstufen wie hundert vorkamen.
Erlenäste. Die drei Bäume am Bach waren Kopferlen. Sie erkannte die kleinen Kügelchen an den Zweigen. Die Bäume waren lange nicht mehr gekappt worden. Sie glaubte sich zu erinnern, daß man das Abschneiden der nachgewachsenen Äste so nannte, obwohl sie nie eine Astsäge an das Holz irgendeines Baumes gesetzt hatte. Oder war ein dicker Efeustamm auch Baumholz? Nach ein paar Stunden auf der Chaiselongue im Arbeitszimmer brachte sie einen Küchenstuhl nach draußen. Den Stuhl, auf dem Rhys Jones gesessen hatte. Sie stellte ihn an einen der Bäume und stieg mit ihren schlammigen Klompen auf den Sitz. Schade, daß ich das nicht schon heute früh gemacht habe, dachte sie, dann hätte er außer löchrigen Socken auch noch einen Matschhintern gehabt. Die Säge schnitt nur beim Ziehen richtig, nicht beim Schieben. Außerdem mußte sie aufpassen,
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