Der Umweg
auf der Fähre liegengelassen hatte, fiel ihr ein, daß sie es auch immer als Uhr benutzt hatte. Ihren Taschenkalender hatte sie mitgenommen, und wenn sie wirklich wollte, konnte sie das Datum herausfinden. Keine Uhr zu haben – die Wanduhr in der Küche stand, und das wahrscheinlich schon lange – war nicht schlimm. Sie aß, wenn sie Hunger hatte, ging zu Bett, wenn sie glaubte, daß sie es dort aushalten würde, nie ohne ein Paracetamol einzunehmen. Kein Wecker.
Als sie am nächsten Morgen die Treppe hinunterging, hätte sie gleich weiter ins Freie gehen können. Die Haustür stand offen. Es war schon hell, das Gras lag feucht vor ihren nackten Füßen. These are the days when skies put on / The old, old sophistries of June, – / A blue and gold mistake . Es war ihr ein Rätsel, wo die Verse auf einmal herkamen. November, und doch so mild. Trügerisch mild vielleicht, blau und golden, aber ein Irrtum. Auf der Stufe vor der Haustür standen zwei Stiefel. Sie drehte sich um, die Tür ließ sie offen. Der Mann saß am Küchentisch, als käme er jeden Morgen zum Kaffeetrinken. Er hatte die Karte zusammengefaltet und trommelte bedächtig mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Guten Morgen«, sagte er.
»Wieviel Uhr ist es?« fragte sie.
Der Mann zeigte mit dem Daumen über die Schulter.
Sie schaute auf die Wanduhr, die dreizehn Minuten nach neun zeigte. Sie konnte sich nicht erinnern, bei welcher Zeit sie all die Wochen gestanden hatte.
»Sitzen Sie hier schon eine Viertelstunde?«
»Ja.«
Sie hatte ein Schlaf-T-Shirt an, das kaum bis zu ihren Knien reichte, sonst nichts. Aber für einen Rückzug nach oben war es jetzt zu spät. Oder nicht?
Der Mann stand auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Rhys Jones.«
Wäre er nicht aufgestanden, hätte sie noch kurz nach oben gehen können. Sie zog den Halsausschnitt des T-Shirts etwas höher und reichte ihm die andere Hand. »Guten Morgen«, sagte sie, ihren Namen nannte sie nicht. Sie ging zu dem großen Herd, hob eine der Deckklappen und füllte den Kaffeetopf mit Wasser und Kaffeepulver. Sie hörte, daß der Bauer sich wieder hinsetzte, der Küchenstuhl knarrte.
»Unverwüstlich«, sagte er.
Sie schaute aus dem Fenster. »Milch?« fragte sie, ohne sich umzudrehen.
»Bitte. Milch und Zucker.«
Sie hob die zweite Klappe, holte eine Plastikflasche Milch aus dem Kühlschrank und goß die Milch in einen kleinen Topf. Aus dem Besteckkasten auf der Anrichte nahm sie den Schneebesen. Ihre Hand zitterte. »Ich gehe kurz nach oben«, sagte sie, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Der Mann antwortete nicht.
»Ich ziehe mir etwas an, ich habe verschlafen.«
»Von mir aus muß das nicht sein«, sagte Rhys Jones.
Sie drehte sich um. »War die Tür nicht abgeschlossen?«
Er schob die Hand in eine Gesäßtasche und holte einen Schlüssel heraus, den er auf die Karte legte. »Ich hab einen Schlüssel.«
»Den Sie jetzt hierlassen?«
»Wenn dir das lieber ist.«
»Ja, das wäre mir lieber.« Sie drehte sich wieder um und rührte mit dem Schneebesen in der Milch. Sie spürte ihren Hintern unter dem dünnen Stoff des Nachthemds wackeln. »Es ist Torte da. Möchten Sie ein Stück Torte zum Kaffee?«
»Gern.«
Der Kaffeetopf begann zu knattern. »Haben Sie die Bedienungsanleitung geschrieben?«
»Ja.«
»Das haben Sie wirklich gut gemacht. So komme ich mit dem AGA prima zurecht.«
»Der Öltank ist voll, das reicht für Monate.« Er schob die Karte ein Stück zur Seite. »Der Witwe Evans war es ganz angenehm, daß ich den Schlüssel hatte.«
Sie füllte die Kaffeebecher, goß in einen auch Milch. Dann nahm sie die Torte aus dem Kühlschrank, schnitt zwei Stück ab und legte sie auf Teller. Sie schob ihm den Kaffee und die Torte hin und drückte vor dem Hinsetzen möglichst unauffällig den Saum des T-Shirts an ihre Oberschenkel.
Rhys Jones hatte einen walisischen Quadratschädel, dickes, fettiges Haar und wäßrige Augen, er war unrasiert. Sie glaubte einen leichten Schafgeruch wahrzunehmen, es konnte auch Bier vom Vorabend sein. Sein rechter Daumennagel war eingerissen und blau. Er schlang das Stück Torte in fünf Bissen hinunter.
»Du hast da was für die Gänse gezimmert?« fragte er.
»Welche Abmachungen hatten Sie mit der Frau getroffen, die hier gewohnt hat?«
»Wegen der Schafe?«
»Ja.«
»Gratis weiden, ein- oder zweimal pro Jahr mähen und heuen. Und im Herbst ein Lamm.«
»Ein Lamm?«
»In Stücken.«
»Dieses Lamm bekomme ich also
Weitere Kostenlose Bücher