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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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Fleischbrocken heraus und legte sie in die Plastikkiste, die noch neben der Truhe stand.
    »Was hast du vor?«
    Sie antwortete nicht, hob die Kiste hoch und trug sie ins Wohnzimmer. Der Junge beobachtete sie genau. Wie ein Hund. Ohren gespitzt, wachsamer Blick, in Erwartung eines Befehls. Sie mußte die Kiste abstellen, um die Haustür öffnen zu können. Es war nicht kalt, obwohl keine Wolke zu sehen war. Ein gewaltiger Himmel spannte sich über das Land, über Haus und Garten. Auf dem ersten Stück hatte sie noch das Licht aus dem Küchenfenster. Als der Lichtstreifen hinter ihr lag, blieb sie einen Moment stehen, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Der Bach brauste, der Schiefersplitt unter ihren nackten Füßen knirschte. Sie nahm die steif gefrorenen Stücke Lammfleisch nacheinander aus der Kiste und warf sie mit aller Kraft, die sie in den Armen hatte, ins Wasser. Jeder Fleischbrocken war schwer wie ein Stein, wie Steine würden sie auf dem Grund des Bachs liegen. Sie starrte auf das dunkle Wasser, in dem allmählich immer mehr von dem gewaltigen Himmel sichtbar wurde, die leere Kiste hielt sie locker in der Hand. Mit dem Rauchen aufzuhören ist etwas für gesunde Menschen, dachte sie. Auf dem Rückweg sah sie die weiße Rosenknospe aufleuchten. Ihr Kopf war warm, vielleicht war die Mütze ja aus richtiger Wolle. Schafwolle.
    Von oben war Gepolter zu hören, als sie die Haustür hinter sich schloß. »Was machst du da?« rief sie in Richtung Treppe. Sie wischte sich den Splitt von den Füßen.
    Bradwen kam aus dem Arbeitszimmer. »Ich richte das neue Schlafzimmer ein.«
    Es fiel ihr schwer, zum Obergeschoß hinaufzuschauen, nachdem sie eine Zeitlang mit gesenktem Kopf nach unten gestarrt hatte.
    »Du schläfst jetzt vor dem Kamin. Ich muß ihn nur noch anzünden.«
    »Ja, und du?«
    »Auf der Liege. Wie immer.«
    »Meine Güte«, sagte sie leise, auf niederländisch. Seit Monaten wohnte sie schon in diesem Haus, und erst jetzt wurde ihr klar, daß der Ofen im Wohnzimmer und der große Kamin oben denselben Abzugsschacht hatten. »Nach Weihnachten bist du weg«, sagte sie.
    »Ich glaube kaum«, sagte er und kam herunter.
54
    Sie wachte auf, weil der Junge zwei Holzscheite in den Kamin legte und eine Weile blasen mußte, um das Feuer wieder anzufachen. Dann schlich er zur Chaiselongue zurück und streckte sich aus. Einige Zeit vorher hatte er beide Fenster einen Spalt geöffnet, sonst hätte man es im Arbeitszimmer nicht ausgehalten.
    »Mit Sam war es hier ganz anders«, sagte er.
    Sie antwortete nicht. Schaute zur Zimmerdecke hinauf.
    »Ein Hund kann nicht die ganze Nacht durchschlafen, er fängt dann an herumzugeistern. Er hat an mir geschnüffelt, auch gewinselt.«
    »Er ist sogar nach unten gelaufen.«
    »Nein, das dann doch nicht. Er ist die ganze Zeit hiergeblieben.«
    Sie seufzte, drehte den Kopf zu ihm hin. Bradwen lag halb unter der Decke, die Hände im Nacken gefaltet. »Wie spät ist es?«
    »Keine Ahnung. Drei Uhr vielleicht?«
    Ihr ganzer Körper schien mit Schwerem gefüllt zu sein. Beton, Blei, Eichenbalken. Sie unternahm gar nicht erst den Versuch, sich auf die Seite zu drehen. Sie dachte an die Nacht, in der Bradwen sich hatte übergeben müssen, an die Vorstellung, daß etwas von der Spannung in seinem Leib sich auf sie übertragen hatte, über ihre Hände. »Du geisterst auch herum«, sagte sie.
    »Nur jetzt. Das Feuer war fast ausgegangen.«
    Nein, ihr Körper selbst bestand aus Schwerem, der Bauch war aus Beton, die Beine wie Eichenbalken, das Blut wie flüssiges Blei.
    »Wie heißt du wirklich?« fragte der Junge.
    Sie dachte kurz nach. »Emilie.«
    Bradwen drehte sich mühelos auf die Seite, ließ die rechte Hand unter der Wange liegen, kratzte sich mit der linken die Brust. Seine Augen glühten im Schein des Kaminfeuers.
    »Wie hieß die Witwe Evans mit Vornamen?«
    »Weiß ich nicht. Für mich war sie Frau Evans.«
    »Warst du oft hier?«
    »Früher ja.«
    »Hast du Herrn Evans auch gekannt?«
    »Nein. Er starb, als ich zwei oder drei war.«
    »Riechst du sie noch?«
    »Was?«
    »Ob du Frau Evans noch riechst, hier im Haus.«
    Er hob den Kopf von seiner Hand. »Nein.«
    »Ich schon.« Auch hier im Arbeitszimmer war der Bach deutlich zu hören. Noch deutlicher sogar, weil das Fenster an der Zufahrtsseite dem Wasser näher war als das in ihrem Schlafzimmer. Es rauschte anders, als wäre es ein anderer Bach. Oder ein anderes Haus.
    »Wie lange«, begann sie nach ein paar

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