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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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Lippen versuchte sie es noch einmal. »Carla.«
    »Ein Schoßhündchen«, sagte der Junge.
    »Nein, ein sehr großer.« Sie strich mit dem Handrücken über ihre warme Stirn, trank ihr Glas leer. »Gieß mir noch eins ein.«
    Gehorsam griff Bradwen nach der Flasche. »Komischer Name für einen großen Hund.«
    »Ja.« Funny name for a big dog . Sie wußte, daß es noch etwas anderes bedeutete, konnte es nicht vollständig in ihre eigene Sprache transportieren. Nach oben wollte sie, zur Ablage unterm Spiegel. Nicht eine, sondern zwei Tabletten. Sie stand auf, ging ins Wohnzimmer und stieg die Treppe hinauf. Der Junge rief ihr nichts nach. Sie schaltete das Licht im Badezimmer nicht ein, griff hastig nach den Tablettenstreifen, wagte es, sich im Spiegel anzuschauen, nur von hinten beleuchtet. Zum Glück hatte sie eine abscheuliche Mütze auf, eine Karnevalskopfbedeckung, nicht ernst zu nehmen. »Carlo«, sagte sie. »Oo.« Sie sah ihren Mund auf- und zugehen, undeutlich, ohne Farbe. Es roch nach der Witwe Evans, natürlich, als hätte die vor zehn Minuten die Wanne verlassen, sich abgetrocknet und sich dabei hin und wieder aufs Waschbecken gestützt. Sie spülte zwei Tabletten mit einem einzigen Schluck Wasser hinunter. Als sie sich wieder aufrichtete, baumelten die Bändel noch fröhlich hin und her.
    »Du rauchst gar nicht«, sagte der Junge. Er hatte den Tisch abgeräumt, das Essen von ihrem Teller in den Abfalleimer geschüttet. Jetzt spülte er.
    »Was?«
    »Heute morgen, beim Harken, hab ich dich zum letzten Mal rauchen sehen.«
    Sie schaute sich um. Die Zigaretten lagen nicht auf dem Tisch. Langsam stand sie wieder auf, stieß sich an der Rückenlehne des Stuhls ab, um in Bewegung zu kommen.
    »Du mußt ja nicht«, sagte er, ohne sich umzudrehen.
    Sie griff nach ihrer Jacke, die auf dem Stuhl neben dem Büfett lag. In der einen Tasche ertastete sie das Zigarettenpäckchen. Das Feuerzeug fand sie auch in der anderen nicht. Da sie nun schon einmal neben dem Büfett stand, schaltete sie das Radio ein. Musik. Es gab etwas, das sie tun wollte, das sie tun mußte. Sie dachte nach. Bradwen war jetzt beim Besteck angekommen, aus dem Wohnzimmer drang das Knistern von brennendem Holz. Das Radio dudelte leise. Etwas tun. Die Tablettenschachteln waren schon weg. Sie sah das Feuerzeug aus ihrer Hand gleiten, hörte es mit einem trockenen Ticken auf den Stein und von da aus ins Gras fallen. »Wirf mal die Streichhölzer rüber«, sagte sie.
    Der Junge nahm das Schächtelchen von der Fensterbank und warf es im Bogen zu ihr hin. Sie wollte es im Flug fangen, streckte die Hand viel zu zögernd aus, vielleicht flog es zu schnell. Es prallte vom Büfett ab und landete vor dem Weihnachtsbaum auf dem Boden. Sie mußte sich bücken, fiel hin. Sofort stand er neben ihr.
    »Geht schon«, sagte sie. »Nichts passiert.«
    Er reichte ihr die Hand und zog sie hoch.
    Sie setzte sich wieder an den Tisch und zündete endlich die Zigarette an. Gräßlich, fast ekelhaft. Als wäre sie vierzehn und würde zum ersten Mal eine filterlose Camel rauchen, die ihr Onkel ihr gegeben hatte. Das mußte bei einem der letzten Besuche gewesen sein, bei denen sie noch über Nacht bleiben durfte. Sie hustete und versuchte es wieder. Man konnte sich doch nicht urplötzlich vor etwas ekeln, das man jahrelang gemocht hatte? Bradwen stand noch in ihrer Nähe, irgendwo neben ihrem Ellbogen. Schon die bloße Vorstellung von Rauch, der über Mund und Luftröhre in die Lunge gelangt, war ihr so zuwider, daß sie nicht einmal mehr einatmen konnte. Sie drückte die Zigarette aus.
    Der Junge hüstelte. »Kaffee?« fragte er dann.
    »Nein.« Sie trank ihr Glas leer. Stand auf und ging ins Wohnzimmer. Schaltete den Fernseher ein, setzte sich aufs Sofa. Sie hörte, daß er das Radio ausstellte und mit dem Spülen weitermachte. Vor ihren Augen bewegte Bilder, von Lauten begleitet, alles eine Sekunde neben dem Takt. Ein breiter Wassergraben, eher schon ein Kanal, ein kleines Boot mit zwei Männern darin. Körbe, die aus dem Wasser gezogen wurden, in einem davon ein Aal, er wurde herausgeschüttelt. Die Fangmenge sei um fünfundneunzig Prozent zurückgegangen, seit die hölzernen Schleusentore durch stählerne ersetzt wurden, erklärte einer der Fischer. Auf der Weide neben dem Kanal stand ein einsames Schaf. Sofort raffte sie sich auf und ging in die Küche zurück.
    »Doch Kaffee?« fragte der Junge.
    »Nein.« Sie ging zur Gefriertruhe und hob den Deckel, nahm die

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