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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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Minuten Pause, »wie lange hält sich wohl der Hundegeruch noch bei der Gänseweide?«
    »Eine ganze Weile, glaub ich.«
    »Hm.« Das Holz im Kamin knisterte. Sie spürte die Wärme auf ihrer Kopfhaut. Früher, dachte sie. Welche Bedeutung hat ein solches Wort, wenn man zwanzig ist? Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Wie kann es sein, daß du nichts von dem Steinkreis gewußt hast?«
    »Hab ich doch.«
    »Du hast gesagt, du kennst ihn nicht.«
    »O nein. ›Gar nicht bemerkt‹, hab ich gesagt. Es war neblig an dem Tag.«
    »Und du hast mich gefragt, wie du zum Berg kommst.«
    »Nicht wie , ich hab gefragt, ob du einen Vorschlag für einen möglichst schönen Weg hättest.«
    »Lügst du jetzt, oder was?«
    »Nein, ich lüge nicht. Lügst du?«
    »Ja. Ununterbrochen.«
    Der Junge kicherte. Seine Brust bewegte sich.
    »Dein Vater wollte mir noch erzählen, wie sie gestorben ist.«
    »Ja?«
    »Aber ich wollte es nicht hören.«
    »So.«
    »Ich wollte ihn so schnell wie möglich loswerden.«
    Wieder kicherte er.
    »Aber dir höre ich gern zu«, sagte sie, obwohl sie plötzlich kaum noch die Augen offenhalten konnte.
    Der Junge stand auf und zog seine Decke von der Chaiselongue. »Rutsch mal ein Stück zur Seite.«
    Sie tat es, legte ihre Arme auf der Decke an den Körper. Er streckte sich neben ihr aus, halb unter seiner eigenen Decke, sein Kopf lag in Höhe ihrer Brüste. Das hatte wieder etwas Unterwürfiges, es erinnerte sie daran, wie Sam nachts heruntergekommen war und den Kopf auf ihre Knie gelegt hatte.
    »Ich hab sie gefunden«, sagte er.
    »Du?«
    »Hat mein Vater dir etwas anderes erzählt?«
    Sie dachte nach. »Er tat so, als ob er alles darüber wüßte.« Die englischen Wörter kamen nur mit Mühe heraus, Übersetzen kostete Kraft.
    »Stimmt auch. Ich habe dafür gesorgt, daß er sie nach mir fand. Das habe ich ihm gegönnt.«
    Der Junge redete. Sie mußte sich sehr anstrengen, um mit den Gedanken dabeizubleiben, nicht abzuschweifen, keine Lücke entstehen zu lassen; es war so leicht, nur auf die Laute zu achten. Im Sommer – im vergangenen Sommer, nahm sie an – hatte er Frau Evans wieder einmal besuchen wollen, vielleicht zum letzten Mal, immerhin war sie über neunzig. Er war mit dem Fahrrad aus Bangor gekommen, kein einziger anderer Radfahrer war ihm begegnet, die Leute hier fahren nicht mit dem Rad, trotzdem gab es neben dem Bahnhof einen Fahrradverleih – für Touristen, die sich dort aber nicht blicken ließen. Er nahm den Zufahrtsweg, auf den Wiesen stand das Gras sehr hoch, was ihn an seinen Vater erinnerte, der seiner Verpflichtung zum Mähen offenbar nicht oder noch nicht nachgekommen war. Typisch. Sam war nicht dabei, den hatte er zu Hause gelassen; auf ihre Frage, wo das sei, antwortete er: Liverpool. Die Stadt, in der er damals studierte? Ja, an der Hope University; nicht meinem Vater erzählen. Von Bangor bis hier waren es etwa fünfundzwanzig Kilometer, er wußte nicht, ob Sam so weit neben einem Fahrrad herrennen konnte. Und natürlich mußte er damit rechnen, daß ausgerechnet dann, wenn er ankam, sein Vater da sein würde, sein Vater, dem er den Hund gestohlen hatte. Hier hätte sie ihn unterbrechen können, ihr war heiß geworden, vom Feuer und von dem Sommer, von dem er erzählte, aber den Mund zu öffnen war schon zuviel. Er hatte die Gänse dicht beieinander an dem kleinen Holzschuppen stehen sehen. Im Haus hatte er niemanden angetroffen, auch nicht unter den Kopferlen am Bach, wo sie früher an warmen Tagen manchmal gesessen hatte. Er hatte das Rad an die Seitenwand des Schweinestalls gelehnt. Die Gänse kollerten aufgeregt. Er ging auf sie zu, sie erinnerten ihn an eine Gruppe von Gaffern, die sich sensationslüstern um ein Verkehrsopfer drängen. Er stieg über das Tor, die Gänse rannten weg, und da lag sie. Angefressen. Er wußte nicht, ob Gänse so etwas taten, er nahm an, daß es eher ein Fuchs gewesen war oder ein Greifvogel. Ein kite . Nicht Drachen, dachte sie, sondern Milan, und öffnete die Augen, um die Decke des Arbeitszimmers zu sehen, statt einer Gänseweide im Sommer und einer toten alten Frau darauf. Er hatte sie sich nicht lange angesehen, am schlimmsten fand er, daß ihr Kleid hochgerutscht war. Er war fortgerannt. Kurz vorher hatte er noch Hunger gehabt, auf dem Rad hatte er sich auf große Stücke selbstgebackene Torte gefreut, denn eins konnte die Witwe Evans wie sonst niemand: Torten backen. Dann fiel ihm ein, daß er jemanden anrufen mußte. Er holte das Rad

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