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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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und fuhr zur Straße zurück. Dort, an dem immer geöffneten Gatter, hatte er seinen Vater angerufen, in der Annahme, daß er zu dieser Zeit nicht zu Hause sein würde. Mit verstellter, tiefer Stimme hatte er eine kurze Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen. Anschließend war er nach Bangor zurückgefahren, hatte das Leihrad abgeliefert und den nächsten Zug genommen. Umsteigen in Chester, Endstation Liverpool Lime Street. Ein Mädchen im Studentenwohnheim, seine Nachbarin, erzählte ihm, daß Sam ununterbrochen gejault hatte, und bat ihn, den Hund in Zukunft doch lieber zu ihr zu bringen, wenn er ihn allein lassen wollte.
    Ein Mädchen, dachte sie. »Sehen wir deinen Erzeuger hier noch mal?« fragte sie.
    »Glaub ich nicht. Er hat seinen Hund wieder, und du bist ja nicht auf seine Annäherungsversuche eingegangen.«
    Fast unbemerkt war der Junge zu ihr unter die Decke gekrochen, sie mußte eine Zeitlang die Kontrolle über ihren linken Arm verloren haben. Sie ließ ihn gewähren, dieser Leib voller Schwere konnte vieles vertragen. Sein Körper schien unter Strom zu stehen; seine Brust glühte, seine Hand schwelte, sein Atem war heiß, wie der eines Hundes, der einen freudig begrüßt. Was für ein Gefühl wäre es, wenn sie ihr Nachthemd nicht anhätte? Sie wollte es ausziehen, aber das Feuer hatte sie träge und schwer gemacht, und außerdem war es mitten in der Nacht; müde war sie, todmüde. »Kannst du …?« fragte sie und hob den Kopf ein kleines Stück vom Kissen.
    Er verstand sie. Kurz darauf schmiegten sie sich aneinander wie zwei pubertierende Teenager, die vorsichtshalber ihre Unterhosen anbehalten. Sie auf dem Rücken und er auf der Seite, immer noch etwas tiefer als sie, mit der Nase an ihrem Oberarm, die Arme an ihren Hüften. Arme voller Spannung, sie fühlte, wie sich etwas davon auf sie übertrug. Der Bach brauste. Genau in dem Moment, als sie mit dem Geräusch des fließenden Wassers in den Schlaf hinübergleiten wollte, sagte er: »Wir fahren zum Berg. Übermorgen. Am ersten Weihnachtstag. Dann fährt der Zug.«
    Gut, dachte sie. Zum Berg, das wird gerade noch gehen. »Willst du morgen zum Bäcker? Weihnachtsstollen kaufen? Dann bestell den beiden Grüße. Ganz herzliche Grüße von der Holländerin.«
    Der Junge gab einen Kehllaut von sich, er schlief ein. Fand er sie alt und häßlich? Roch er etwas an ihr? Sie seufzte tief und schloß die Augen. Nicht dran denken. Nicht jetzt.
55
    Der Junge war unterwegs zum Bäcker. Zu Fuß. Bis zu seiner Rückkehr hatte sie das Haus für sich. Anschließend mußte er noch zu Tesco fahren, Weihnachtseinkäufe erledigen. Das Radio lief. Sie saß am Küchentisch, die Mütze auf dem Kopf. Vor ihr lag der Gedichtband von Dickinson, aufgeschlagen auf Seite 216 und 217, und Schreibpapier. Geräumig mach dies Bett und Mächtig mach dies Bett hatte sie aufgeschrieben und durchgestrichen. Das eine hatte eine Silbe zuviel, das andere eine Alliteration, die es im Original nicht gab. Sie hatte sich dann für Üppig mach dies Bett entschieden. Auch Mach es voller Scheu als Übersetzung der zweiten Zeile war durchgestrichen. Daraus hatte sie Scheu und ehrfurchtsvoll gemacht. Die dritte und vierte Zeile hatte sie auf ein anderes Blatt geschrieben, auf dem ansonsten überall einzelne Wörter standen. Urteilstag zum Beispiel, großartig , unbestechlich und gerecht . Rhythmus ist hier das Allerwichtigste, hatte sie gedacht. Sie schrieb die vier Zeilen auf ein drittes Blatt und starrte aus dem Fenster. Die Pflänzchen auf der Fensterbank blühten und blühten; in Dickson’s Garden Centre bekam man wirklich etwas Ordentliches für sein Geld. Das Radio spielte in endloser Folge Weihnachtsevergreens, nach jeweils drei Stücken verriet eine ruhige Ansagerstimme, was man zuletzt gehört hatte. Sie blieb in den ersten Zeilen des zweiten Vierzeilers stecken, diese merkwürdige Form des Imperativs machte sie ratlos, immer noch. Be its mattress straight / Be its pillow round . Sei die harte Matratze hatte sie auf einem der Schmierblätter sofort wieder durchgestrichen, ebenso Sei das Kissen, weich und rund . Erst jetzt, als sie die durchgestrichenen Zeilen noch einmal las, fiel ihr auf, daß beide zwei Silben zuviel hatten.
    Der Geruch der Witwe Evans wurde zu penetrant, sie mußte nach draußen. Ihre Jacke ließ sie hängen; nicht ohne Jacke aus dem Haus zu gehen ist etwas für gesunde Menschen, die Angst haben, sich zu erkälten, dachte sie. Unter dem Rosenbogen blieb sie

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