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Der Umweg

Der Umweg

Titel: Der Umweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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stehen, starrte auf den neuen Schieferweg, der vor dem hinteren Rasenstück endete. So konnte es nicht bleiben. Wo der Weg aufhörte, mußte etwas stehen, er mußte zu etwas hinführen. Zu einer Säule vielleicht, einer Säule mit einem großen Pflanzenkübel darauf. Der Bach rauschte, die umgestürzte Eiche lag wie versteinert, sie konnte sich auch nicht vorstellen, daß die Erlen jemals wieder ausschlagen würden, so leblos sahen die entasteten Köpfe aus. Sie bog um die Hausecke. Die Gänse pickten im Gras. Immer noch vier. Sie überlegte, ob auch Füchse Winterschlaf halten. Vollgefressen in der Höhle, Nase auf den Vorderpfoten, hin und wieder zufrieden seufzend. Sie preßte die Handflächen auf die Schläfen, weil sie merkte, daß sie das Gedachte nach Silben abmaß, abwechselnd betont und unbetont, und ersetzte im letzten Gedanken das »hin und wieder« durch »ab und an«. Kein Wind, nicht der leiseste Hauch. Die Gänse hatten sie jetzt bemerkt, sie begannen leise zu kollern. Sie lehnte sich an die dicke Hauswand. Wenn der Hund mich für einen Hund hielt, wie der Junge behauptet hat, halten mich dann die Gänse für eine Gans? Nein, ich sehe wie ein Truthahn aus, dachte sie und zupfte an den Bändeln ihrer violetten Mütze.
    Ein paar Minuten später saß sie wieder am Küchentisch. Sie beschäftigte sich nicht mehr mit ihren Versuchen auf den Schmierzetteln, sondern blätterte durch den Teil NATURE . Nach einiger Zeit, sie war mit diesem Abschnitt fast fertig, begannen die Buchstaben ineinanderzufließen, das Lesen fiel ihr immer schwerer. Kein einziges Mal die Wörter goose oder geese , sie hatte es auch nicht anders erwartet. Immer nur bees und butterflies und robins . Sie schnaubte durch die Nase, schlug das Buch zu und schob es von sich weg. Stand auf, schleppte sich die Treppe hinauf, drückte eine Tablette aus dem Streifen, ging hinunter und goß sich ein Glas Weißwein ein. Schluckte die Tablette mit dem Wein. Als sie Schritte auf dem Splitt hörte, war alles wieder angenehm unscharf.
    Er würde das Brot hereinbringen, vielleicht sprachen sie noch über die Einkaufsliste, und dann konnte er wieder los. Wegschicken würde sie ihn, wie einen Hund. Er würde überflüssige Sachen kaufen. Währenddessen würde sie Vorbereitungen treffen, nach einer weiteren Tablette vielleicht. Brot und Wein in den alten Schweinestall bringen, Kissen und Teppiche, eine Kerze in einer leeren Weinflasche als Ständer, dazu eine Schachtel Streichhölzer. Die Kerze mußte sie erst mit einem scharfen Messer zurechtschneiden. In der kommenden Nacht durfte er bei ihr liegen; sie stellte es sich vor: sein Kopf etwas tiefer als ihrer, seine Hände mit den breiten Daumen auf ihren Brüsten, wenn er sich traute.
    Bradwen kam herein. Er stellte seinen Rucksack auf den Tisch und zog die Mütze vom Kopf. »Ich soll dich auch grüßen«, sagte er. »Die Frau vom Bäcker fragt, wann du mal wieder selbst kommst.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Du trinkst Wein?«
    » Ein Glas.«
    »Sie ist Mitglied in einem Leseverein. Sie hat gesagt, sie fände es schön, wenn du da auch mitmachen würdest.«
    »In einem Leseverein.«
    »Ja. Sie hat mir sogar gesagt, über welches Buch sie gerade reden.«
    Sie schaute ihn an. Das Haar klebte ihm in der Stirn, und wie gewöhnlich ließ er es, wie es war. Die grauen Augen, das Schielen, das es so schwierig machte, in seinem Blick zu lesen. Er war verändert, wirklich verändert, seit der Hund nicht mehr da war. Er ist selber schuld, dachte sie. Ich habe ihm mehrmals gesagt, daß er gehen soll. Wasser, fiel ihr ein. Wasser fehlt noch, Wein allein reicht nicht. Während sie den Einkaufszettel ergänzte, der auf dem Küchentisch lag, versuchte sie sich Rhys Jones’ Maklerfreund und Rhys Jones selbst vorzustellen. Nicht die aufgesetzt freundliche Miene des einen vor ein paar Monaten oder die versteinerte des anderen vor acht Tagen, sondern ihre verblüfften Gesichter in ungefähr einer Woche. Es gelang ihr nur halb, an das Gesicht des Maklers konnte sie sich einfach nicht mehr erinnern. Sie schnipste eine Zigarette aus dem Päckchen, zündete sie mit einem Streichholz an, machte gedankenlos einen tiefen Zug. Sie wußte nicht, wie ihr geschah, es war so schlimm, daß sie die Zigarette einfach auf eins der beschriebenen Blätter spuckte, statt sie mit den Fingern aus dem Mund zu nehmen. Als der Junge merkte, daß sie die Zigarette nicht aufhob, tat er es und drückte den Daumen auf das qualmende Papier.

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