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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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saß, die zu der schweren Haustür führte, und auf den Brotwagen wartete.
    Hunger .
    Allein mit ihrem Willen konnte sie sich seine Macht vergegenwärtigen. Sie war vier oder fünf Jahre alt. Sie brachte die beiden Brotlaibe vom Lieferwagen in die Küche, in der es kühl und still war. Aber sie konnte sich nicht von dem Brot trennen. Sie brach einen Laib durch und begann, sich das knusprige weiße Brot in den Mund zu stopfen.
    Solch ein herrliches Brot! Aber dann hatte ihr älterer Bruder Aramon sie entdeckt, hatte sie geschnappt und ihr gesagt, sein Vater Serge werde sie mit dem Gürtel verprügeln. Sie schob das angebrochene Brot weg. Wünschte verzweifelt, es würde wieder ganz werden. War erschrocken, weil es sie in Versuchung geführt hatte. Und dann hatte Aramon sie auf einen Stuhl gesetzt und ihr etwas Furchtbares erzählt: dass sie gar nicht zu dieser Familie gehörte und nicht einmal das Recht auf ein Stück Brot hatte, das sie so teuer kaufen mussten. Weil sie das Kind von einem anderen war.
    1945, als sie erst wenige Tage alt war – »ein stinkendes Baby«, sagte er –, sei sie von ihrer Mutter in Lumpen gewickelt auf den Stufen des Karmeliterklosters in Ruasse ausgesetzt worden. Ihre Mutter sei eine Kollaborateurin gewesen. Und die Nonnen hätten sie nicht behalten wollen. Ein Kind der Sünde sei sie gewesen. Die Nonnen seien von Dorf zu Dorf gezogen und hätten gefragt, ob jemand ein Baby wolle, ein Mädchen. Ob irgendjemandbereit sei, für ein hässliches Baby mit einem Bauchnabel wie ein Schweineschwänzchen zu sorgen. Aber niemand habe sie gewollt. Niemand, der halbwegs bei Verstand war, habe das Baby einer Kollaborateurin mit einem Bauchnabel wie ein Schweineschwänzchen gewollt – außer Bernadette.
    Bernadette sei ein Engel gewesen, prahlte Aramon, seine Mutter, dieser Engel. Und sie habe Serge dazu gebracht, dass er ihr erlaubte, das Baby zu adoptieren. Adoptieren war das Wort, das Aramon benutzt hatte, als er diese Geschichte erzählte. Er sagte, Serge habe geschrien und nein gebrüllt, er habe schon ein Kind – seinen Sohn, Aramon –, und das allein zähle für ihn, und was um Himmels willen sie bloß mit einem quengelnden Mädchen wolle?
    Aber Bernadette habe ihn – Gott weiß, warum – Tag und Nacht angefleht. Sie habe das vor dem Tor der Karmeliterinnen ausgesetzte Baby unbedingt zu sich nehmen wollen. Und am Ende habe sie gewonnen. Gott weiß, warum. Und so seien sie dann alle zu Fuß nach Ruasse gelaufen und hätten das bitterkalte Kloster betreten und gehört, wie das Babygeschrei von den bitterkalten Wänden widerhallte, und hätten sie mit nach Hause genommen, und sie habe den Namen der Äbtissin des Karmeliterinnenklosters bekommen: Audrun.
    »Und das warst du«, schloss Aramon seine Geschichte. »Adoptiert. Hast du verstanden? Und jetzt wird dir mein Vater den Hintern versohlen, weil du unser Brot gegessen hast. Weil er mit Dingen, die nicht sein sind, kein Erbarmen hat.«
     
    Lange Zeit glaubte Audrun diese Geschichte, und ihr Bruder Aramon sorgte dafür, dass sie sie nicht vergaß.
    »Du hast dich doch bestimmt gefragt, wer dein Vater ist, Audrun. Oder?«
    Ja, das hatte sie. Sie wusste, dass Babys zwei Personen als Eltern haben mussten, nicht nur eine. Jeder in La Callune hatte zwei Eltern, außer denen, die ihre tapferen Väter im Krieg »verloren«hatten. Also fragte sie Aramon: »War mein Vater einer von den ›verlorenen‹ Männern?«
    »O ja«, lachte er, »verloren an das Böse! Und jetzt verloren an die Hölle! Er war ein Deutscher. Ein SS-Mann. Und deine Mutter war eine putain de collabo . Deswegen hast du einen Bauchnabel wie ein Schweineschwänzchen.«
    Sie begriff nicht, was all das zu bedeuten hatte, nur, dass sie sich offenbar schämen sollte. Aramon sagte, die Leute von Ruasse hätten ihrer Mutter das Haar abrasiert (nicht das Haar ihrer Mutter Bernadette, sondern das Haar dieser anderen Mutter, die sie nie kennengelernt hatte, der Kollaborateurin ), hätten ihr die langen blonden Haare abrasiert und sie nackt über den Markt getrieben, und die Markthändler hätten ihre Brüste mit Fischabfällen beworfen, denn so machte man das mit Frauen, die mit deutschen Soldaten »gingen«, das war ihre Strafe, das und die Geburt von verstümmelten Kindern mit Schweineschwänzen, die aus ihren Bäuchen wuchsen.
    Hunger .
    Nach Brot an jenem Tag damals. Und nach Nähe .
    Klein-Audrun saß im Staub des Hühnergeheges, wo die Bantams scharrten. Sie versuchte, das kleinste

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