Der unausweichliche Tag - Roman
Sie spürte das Gift, das von ihm ausging, es lag ihr wie eine bittere Beere im Mund.
»Ich gebe dir auch zwei Bantamhühner«, bot er an. »Ich drehe ihnen für dich den Hals um, rupfe sie, nehme sie aus. Du kannst Marianne Viala einladen. Feierst ein nettes kleines Fest. Lässt dir den Klatsch erzählen. Pardi ! Ich weiß doch, dass ihr Frauen Klatsch liebt.«
»Zwei Bantamhühner für was?«
Er ruckte mit den Füßen, kratzte sich am Hals. Seine Augen, früher so schön, waren immer noch braun und tief. » Hilf mir einfach. Bitte, Audrun. Denn ich habe jetzt Angst. Ich gebe es zu.«
»Angst wovor?«
»Ich weiß nicht. Da ist dieses schreckliche Durcheinander, in dem ich lebe. Ich weiß nicht, wo ich die Dinge suchen soll, die ich brauche.«
K naben.
Es waren junge Männer Anfang zwanzig, aber im Geiste hatte Anthony Verey sie stets »die Knaben« oder »meine Knaben« genannt. Das hatte ihm Macht über sie verliehen und geholfen, das in Schach zu halten, was ihn, bis vor kurzem noch, zu überwältigen drohte: ihre Schönheit.
Seine Knaben waren meist arm, auf Sozialhilfe oder in unterbezahlten Jobs, versuchten in London zu überleben, versuchten erwachsen zu werden. Er nahm sie mit in seine exquisit eingerichtete Wohnung über dem Laden in der Pimlico Road. Er liebte das Aufregende daran – ein armer Fremder in seinem Bett. Dann brachte er sie nach unten und zeigte ihnen im Schummerlicht seine Lieblinge . Ließ sie die Lieblinge spüren, anfassen, riechen. Ließ sie Wissen, Sicherheit, Behaglichkeit, Status, Geld riechen. Bleiben ließ er sie jedoch nie. Er bezahlte sie anständig, schickte sie aber stets ohne irgendein Versprechen auf weitere Besuche weg, denn die Vorstellung, sie könnten sich, nur weil er älter, weil er beinahe alt war, einbilden, er würde sich zum Sklaven ihrer Männlichkeit und Jugend machen, ertrug er nicht.
Doch es gab nun schon seit langer Zeit keine »Knaben« mehr in Anthonys Bett. Das Verlangen nach ihnen hatte sich klammheimlich verflüchtigt. Der einzige Knabe, der Anthony noch besuchte – in seinen Träumen und in jenen leeren Zeiten, wenn er hinten in seinem Laden saß und keine Kunden kamen –, war der Knabe, der er einst selbst gewesen war.
Er wusste, dass das erbärmlich war, eine sentimentale Niederlage, aber er konnte es nicht ändern. Er wäre einfach schrecklich gerne wieder jener kleine Junge gewesen, der mit seiner Mutter Lal zusammen die Regenbogenfarben bestaunt, die die Sonne in die Bonbonniere auf dem Esszimmertisch in ihremHaus im Hampshire zaubert, während sie beide hingebungsvoll Silber putzen und draußen im Garten ein weiterer langer, ungetrübter Sommer der 1950er Jahre langsam vorübergeht.
Es war mehr als erbärmlich. Anthony verriet niemandem, nicht einmal seiner Schwester Veronica (oder »V«, wie er sie stets nannte), etwas von seiner Sehnsucht, wieder das Kind von damals zu sein. Denn allem Anschein nach kam V – drei Jahre älter als er – hervorragend mit ihrem Leben zurecht, bewegte sich noch immer unbeirrt vorwärts, steckte voller Pläne und Projekte und hing kaum alten Erinnerungen nach. Wenn er gestanden hätte, dass er davon träumte, wieder im alten Esszimmer in Hampshire zu sitzen und mit Lal Silber zu putzen, wäre V ihm streng gekommen. »Um Gottes willen, Anthony. Ausgerechnet Silber putzen! So eine sinnlose Arbeit! Hast du vergessen, wie schnell es wieder anläuft?«
Lal und ihn selbst hatte das nie gestört. Wenn es wieder schwarz wurde, putzten sie es einfach von neuem. Manchmal sangen sie dabei, Lal und er, in vollkommener Harmonie. Während V entweder auf ihrer Fuchsstute Susan souverän über die Felder galoppierte oder in ihrem Zimmer hockte und, mit der Nase in ihrem Lieblingskunstbuch Wie man Bäume zeichnet, Bleistiftskizzen anfertigte, sangen sie Schlagermelodien.
»The boat’s in! What’s the boat brought in?
A vio-lin and lay-ay-dy!«
Der silberne Gegenstand, den Anthony damals am allermeisten bewunderte, war eines von Lals Sahnekännchen. Vorsichtig ertasteten seine Finger die komplizierten Schnörkel des Henkels, die eingravierten zarten Blattranken am Kannenbauch. »O ja, das ist ein Schätzchen«, hatte Lal gegurrt. »Georgianisch. Um 1760, glaube ich. Reizende kleine Hufe als Standfüße. Hochzeitsgeschenk für Pa und mich. Du kannst es haben, wenn ich tot bin.«
Damals, in jenem Haus, hatte es noch hundert andere Gegenstände gegeben, die den Jungen begeisterten. Schön war es, einen
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