Der ungezähmte Highlander
war ein wenig beängstigend gewesen, denn obgleich sie früher schon ähnliche Erfahrungen gemacht hatte, war ihr noch nie alles so klar erschienen, und sie hatte es nie so stark empfunden. Selbst jetzt wurde sie das Gefühl kaum los, dass es nicht nur darum ging, diesem Mann bei der Genesung zur Seite zu stehen.
»Dumme Gans!«, murrte sie kopfschüttelnd und trocknete ihn mit einem weichen Handtuch ab.
Vielleicht sollte sie seine Leute benachrichtigen, dachte sie, während sie eine kräftige Brühe zubereitete, die sie ihm einflößen wollte, wenn er aufwachte. Den Worten ihres Cousins hatte sie entnommen, dass Sir Liams Verwandte sehr wohl imstande sein würden, ihn zu schützen. Doch dann verwarf sie diesen Gedanken rasch wieder, und zwar aus demselben Grund, den sie ihrem Cousin genannt hatte, als er ihr vorgeschlagen hatte, die Camerons zu rufen. Sir Liam wollte das vielleicht gar nicht, womöglich wollte er seine Familie nicht in den Ärger verwickeln, den er sich eingehandelt hatte. Das konnte sie gut verstehen, denn auch sie zögerte, ihre Familie mit ihren Sorgen zu behelligen.
Freilich war auch das töricht. Schließlich hatte sie nichts Unrechtes getan, sie hatte den Ärger nicht verursacht und die Gefahr nicht heraufbeschworen. Wenn einer ihrer Verwandten in eine solche Notlage geraten wäre, wäre sie ihm bereitwillig zu Hilfe geeilt. Aber gerade deshalb hätte so ein Verwandter wohl auch gezögert, sie davon in Kenntnis zu setzen, dachte sie und musste kurz grinsen. Man neigt eben dazu, diejenigen zu schützen, die man liebt. Würde ihre Familie erfahren, dass sie sie vorsätzlich draußen vor gelassen hatte, würden sie zornig sein und vielleicht auch ein wenig beleidigt oder gekränkt, aber sie würden es verstehen, denn im Grunde hätten sie wahrscheinlich genauso gehandelt.
Und wenn dieser Mann seiner Familie so nahe stand, wie es ihr Cousin angedeutet hatte, würde er sich genauso verhalten. Bei ihrer letzten Begegnung mit ihrer Cousine Gillyanne hatte sie einiges über die Camerons erfahren. Auch wenn die Geschichten ziemlich lustig gewesen waren, hatten sie doch gezeigt, dass sich auch die Camerons sehr nahe standen. Außerdem durfte man Sir Liams männlichen Stolz nicht vergessen. Zweifellos würde es ihn ärgern, wenn man ihn so behandelte, als ob er nicht alleine zurechtkäme. Nein, beschloss Keira, es war keine gute Idee, seine Familie ohne seine Einwilligung zu benachrichtigen.
Nach einem Abendessen aus Brot, Käse und kaltem Wildbret nahm sie ein hastiges Bad und legte sich auf ihren Strohsack am Feuer zur Ruhe. Sie starrte in die Flammen und wartete auf den Schlaf. Diese nächtlichen Stunden, die Stille und die Tatsache, dass der Schlaf so lange auf sich warten ließ, waren ihr zutiefst verhasst; denn dann war sie allein mit ihren Erinnerungen. So sehr sie sich bemühte, sie konnte sich dem Griff dieser düsteren Vergangenheit nicht entziehen. Sie konnte sie nur eine Weile unterdrücken.
Duncan war ein guter Mann gewesen, stattlich und sehr freundlich. Sie hatte ihn nicht geliebt, was ihr noch immer Gewissensbisse bereitete, auch wenn es nicht ihre Schuld war. Doch mit fast zweiundzwanzig Jahren hatte sie beschlossen, nicht mehr auf die große, leidenschaftliche Liebe warten zu wollen. Sie hatte sich Kinder gewünscht und ein eigenes Heim. Obwohl sie ihre Familie innig liebte, hatte sie immer deutlicher das Bedürfnis verspürt, ihre Schwingen auszubreiten und eigene Wege zu gehen. Die Ehe bescherte einer Frau gewöhnlich keine Freiheit, doch instinktiv hatte sie gewusst, dass Duncan nicht versuchen würde, sie zu beherrschen. Er hatte eine treue Gefährtin gesucht, und da sie wusste, wie selten so etwas war, hatte sie ihm ihr Jawort gegeben, als er sie gefragt hatte, ob sie seine Frau werden wolle.
Sie wusste noch gut, dass ihre Familie einige Zweifel gehegt hatte, vor allem hatten es ihre Großmutter Lady Maldie und ihre Cousine Gillyanne. Ihre besondere Gabe hatte ihnen geweissagt, dass sie den Mann, den sie bald heiraten würde, nicht liebte. Sie hatten ihr Unbehagen gefühlt, das sie sich selbst kaum erklären konnte. Vielleicht wäre es besser gewesen, die beiden hätten sie stärker bedrängt, von dieser Heirat abzusehen? Doch gleich, nachdem ihr dieser Gedanke gekommen war, schalt sie sich. Sie hatten ihre Wahl respektiert, und es war tatsächlich ihre Wahl gewesen.
Warum sie sich von dem Moment an, als sie Duncans Heiratsantrag angenommen hatte, unbehaglich gefühlt
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