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Der Ungnädige

Der Ungnädige

Titel: Der Ungnädige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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London. Wirklich gibt es Unzählige in der großen Hauptstadt, … die nicht einen einzigen Freund besitzen und um die sich niemand, wirklich gar niemand kümmert. «
    Charles Dickens, Londoner Skizzen

1
    Mittwoch
    Maeve
    Wenn mich jemand gefragt hätte, hätte ich gesagt, dass für die Kripo zu arbeiten auch nicht anders ist als jeder andere Job– reichlich Routine und ab und zu ein bisschen Aufregung. Das war natürlich eine glatte Lüge. Die Wahrheit war, dass es mit keinem Job der Welt zu vergleichen war, obwohl es natürlich immer auch gute Tage und schlechte Tage gab. Die schlechten Tage waren allerdings oftmals unerträglich schlecht. An schlechten Tagen musste man viel zu dicht neben einer verwesenden Leiche stehen und den Brechreiz im Griff behalten. An schlechten Tagen gab es blindwütige Gewalt ohne Zeugen auf nächtlichen, verwaisten Straßen. An schlechten Tagen erlebte man aus dem Ruder gelaufene Familienschlägereien, Drogenopfer in schäbigen Zimmern, bettlägerige Alte, deren Nachbarn sich erst dann bequemten, die Polizei zu rufen, wenn der Gestank unerträglich wurde. Ich sparte es mir, die schlechten Tage zusammenzuzählen; das Ergebnis wäre vernichtend ausgefallen. Aber ich konnte sie verkraften. Ich kam damit klar.
    Allerdings war ich mir noch nicht so sicher, ob ich mit meinem neuen Fall klarkommen würde oder genauer gesagt mit meinem neuen Vorgesetzten. Ich wusste nicht, ob ich es ertragen konnte, wenn jeder Tag zu den schlechten gehörte, wenn mich jede Minute eigentlich nur näher an die Grenze zur totalen Entmutigung brachte. Ich starrte durch das Autofenster, hörte mit halbem Ohr dem Fahrer neben mir zu und wünschte mir sehnlichst, woanders zu sein und vor allem in anderer Gesellschaft.
    Eigentlich war eine solche Lustlosigkeit ganz und gar untypisch für mich, aber im Moment sah ich nur noch schwarz. Ich befand mich auf dem Weg zu einem Tatort, den ich mir lieber erspart hätte, und das obendrein in Begleitung von Detective Inspector Josh Derwent– einem von zwei Neuzugängen dieses Dienstrangs in unserem Dezernat. Sowohl er als auch der andere DI , Keith Bryce, hatten früher bereits mit Godley zusammengearbeitet. Das schien aber auch schon alles zu sein, was sie gemeinsam hatten. Bryce umwehte ständig eine leise Melancholie, und sein Gesicht sah so zerknittert aus wie seine Anzüge. Derwent war jünger und stand in dem Ruf, extrem arbeitswütig und streitsüchtig zu sein. Soweit ich es bisher beurteilen konnte, stand er auf rasantes Fahren, Kuschelrock und hörte sich ausgesprochen gern reden. Es hieß, dass er Widerspruch von jüngeren Kollegen nicht ertragen konnte. » Mit Vorsicht zu genießen « war der allgemeine Rat, der im Büro die Runde machte, und ich beobachtete ihn verstohlen, während er fuhr, wild beschleunigte, heftig bremste, fluchte und einhändig das Steuer herumriss, als säße er an einer Spielkonsole und nicht im Auto mitten in den verstopften Straßen von London. Das Autoradio war auf einen hirnlosen Dudelsender eingestellt. Derwent sang gelegentlich mit– völlig unbefangen, obwohl er mich überhaupt nicht kannte. Das soll nicht heißen, dass ich das Potenzial hatte, jemanden nervös zu machen, und schon gar nicht jemanden wie ihn. Schließlich war ich die Jüngste unter den Detective Constables und er ein Inspector mit 15Jahren Diensterfahrung.
    Aber ich war fest entschlossen, nicht voreilig über ihn zu urteilen. Ich hatte meinerseits genug unter unqualifiziertem Tratsch gelitten, unter den zahlreichen Vermutungen, die anhand meines Aussehens, meiner Körpergröße, meines jugendlichen Alters und meines Namens angestellt wurden. Als Superintendent Godley mich also in sein Büro zitierte, wo Derwent schon gegen die Glaswand gelehnt stand, die den Chef vom Rest der Abteilung trennte, ahnte ich nichts Böses. Ich hätte es besser wissen sollen. Selbst jemand so Unerfahrenes wie ich wusste eigentlich, dass es der richtige Moment war, nervös zu werden, wenn der Chef einem nicht direkt in die Augen sah.
    » Maeve, ich nehme an, Josh Derwent kennen Sie noch nicht, oder? Er übernimmt bei dem neuen Fall, den wir in Brixton reingekriegt haben, die Leitung. Es ist mehr oder weniger ein Doppelmord. «
    Derwent bedachte mich mit einem flüchtigen Blick, ohne den Hauch eines Lächelns. Er war nicht besonders groß, wirkte durch seine muskulöse Hals- und Schulterpartie jedoch ziemlich imposant und erinnerte mich insgesamt an eine Bulldogge. Um als gutaussehend

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