Der unmoegliche Mensch
am Strand. Der Riese war noch weiter herangetrieben worden und war jetzt kaum noch mehr als siebzig, achtzig Meter entfernt. Seine Füße hatten die verrotteten Pfähle einer alten Buhne eingedrückt. Der festere Sand fiel hier steiler ab und neigte seinen Körper seewärts, so daß sein Gesicht abgewandt war wie in einer bewußten Geste. Ich setzte mich auf eine große metallene Winde, die oberhalb der Geröllkante an einem Betoncaisson vertäut war, und blickte hinab auf die liegende Gestalt.
Seine bleiche Haut hatte jetzt ihre perlenähnliche Transparenz verloren und war mit schmutzigem Sand bedeckt, der den von der nächtlichen Flut weggespülten ersetzte, Klumpen von Seetang füllten die Zwischenräume zwischen den Fingern, und unter den Knien und Hüften hatten sich Schulpe von Tintenfischen und allerlei Treibgut abgelagert. Aber trotz alledem und trotz der weiter zunehmenden Aufschwemmung seiner Gesichtszüge behielt der Riese immer noch seine großartige heroische Haltung. Die enorme Breite seiner Schultern und die riesigen Säulen der Arme und Beine übertrugen die Gestalt immer noch in eine andere Dimension, und der Riese erschien mir viel eher als einer der ertrunkenen Argonauten oder der Helden aus der »Odyssee« als die üblichen menschengroßen Abbildungen, die ich in Erinnerung hatte.
Ich stieg hinunter auf die Sandfläche und ging zwischen den Wasserpfützen hinaus zu dem Riesen. Zwei kleine Jungen saßen in der Öffnung des Ohrs, und am anderen Ende saß ein einzelner Junge hoch oben auf einer der Zehen und sah mir entgegen. Wie ich gehofft hatte, als ich meinen Besuch so spät ansetzte, kümmerte sich sonst niemand um mich, und die Leute am Strand blieben in ihre Mäntel gehüllt hocken.
Die nach oben geöffnete rechte Hand des Riesen war mit Muschelscherben und Sand bedeckt. Wohl ein Dutzend Fußstapfen waren darin zu sehen. Die abgerundete Masse der Hüfte, die neben mir aufragte, nahm mir die Sicht auf die See. Der unangenehme süßliche Geruch, den ich schon vorher bemerkt hatte, war jetzt durchdringender, und durch die weißliche Haut sah ich das Geschlängel der mit geronnenem Blut gefüllten Adern. So abstoßend es mir auch vorkam, aber diese unaufhörliche Metamorphose, ein sichtbares Leben nach dem Tode, brachte mich doch dazu, meinen Fuß auf die Leiche zu setzen.
Den ausgestreckten Daumen als Geländer benutzend, kletterte ich auf die Handfläche und begann meinen Aufstieg. Die Haut war härter als erwartet und gab unter meinem Gewicht kaum nach. Eilig stieg ich über den Unterarm und den ballonförmigen Bizeps hinauf. Zu meiner Rechten erschien das Gesicht des ertrunkenen Riesen, die geräumigen Nasenlöcher und die riesigen Flanken seiner Wangen wirkten wie die Kegel eines unnatürlichen Vulkans.
Nachdem ich die Schulter sicher umrundet hatte, trat ich hinaus auf die breite Promenade der Brust, die von den Knochenkämmen der Rippen quer durchzogen war wie von riesigen Deckenbalken. Die weiße Haut war mit den dunkler werdenden Druckstellen von unzähligen Tritten bedeckt, in denen die Eindrücke einzelner Absätze klar zu erkennen waren. Irgend jemand hatte mitten auf dem Brustbein eine kleine Sandburg gebaut, und ich stieg auf diese halb zerstörte Erhebung, um das Gesicht besser übersehen zu können.
Die zwei Kinder hatten inzwischen die Ohrmuschel erklettert und zogen sich jetzt in die rechte Augenhöhle hoch, aus der der blaue, von einer milchigen Flüssigkeit vollkommen getrübte Augapfel blind an den Miniaturgestalten vorbeistarrte. Schräg von unten gesehen, fehlten dem Gesicht Anmut und Gelassenheit. Die herabgezogenen Mundwinkel und das hoch herausragende Kinn, das von den gigantischen Muskelbändern gehalten wurde, ließen es wie das aufgerissene Vorschiff eines kolossalen Wracks erscheinen. Zum erstenmal wurde mir das Ausmaß des letzten physischen Leidens dieses Riesen bewußt, das dadurch nicht weniger schmerzhaft wurde, daß er den Verfall der Muskulatur und der Gewebe nicht spürte. Die absolute Isolation der toten Gestalt, die wie ein verlassenes Schiff auf einen leeren Strand geworfen wurde, fast außer Hörweite der Wellen, verwandelte sein Gesicht in eine Maske aus Erschöpfung und Hilflosigkeit.
Als ich vorwärts schritt, sank mein Fuß in eine Mulde aus weichem Gewebe, und durch eine Öffnung zwischen den Rippen quoll stinkendes Gras heraus. Ich wich vor der fauligen Luft zurück, die wie eine Wolke um meinen Kopf hing, und wandte mich zur
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