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Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. G. Ballard
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Seeseite, um meine Lunge freizuatmen. Zu meiner Überraschung sah ich, daß die linke Hand des Riesen amputiert worden war.
     Ich starrte verwirrt auf den schwarz angelaufenen Stumpf, während der einsame Junge auf seinem luftigen Sitz in dreißig Meter Entfernung mich mit blutrünstigem Blick musterte.

    Dies war nur die erste von einer Folge von Verstümmelungen. Ich verbrachte die folgenden zwei Tage in der Bibliothek, weil ich aus irgendeinem Grunde keine rechte Lust hatte, den Strand zu besuchen, und wußte, daß ich vielleicht das nahende Ende einer großartigen Illusion erlebt hatte. Als ich das nächstemal die Dünen überquerte und meinen Fuß auf das Geröll setzte, war der Riese nicht viel mehr als zwanzig Meter entfernt, und mit dieser Nähe zu den groben Steinen war jede Spur des Zaubers gewichen, der einmal die entfernte, wellenumspülte Gestalt umgeben hatte. Trotz seiner ungeheuren Größe ließen ihn die Druckstellen und der Schmutz, die seinen Körper bedeckten, nur menschengroß erscheinen, und seine riesigen Körpermaße erhöhten nur seine Verwundbarkeit.
     Seine rechte Hand und sein rechter Fuß waren entfernt, den Hang hinaufgeschleppt und mit einem Wagen weggefahren worden. Durch Befragen der paar Leute, die an der Buhne hockten, erfuhr ich, daß vermutlich eine Düngemittelfirma und ein Viehfutterfabrikant dafür verantwortlich waren.
     Der noch übrige Fuß des Riesen ragte in die Luft. Ein Stahlseil war an der großen Zehe befestigt, offensichtlich als Vorbereitung für den folgenden Tag. Der Strand in der Nähe war von einer Arbeitskolonne zertrampelt, und tiefe Schleifspuren zeigten, wo die Hände und der Fuß weggeschleppt worden waren. Eine dunkle, brackige Flüssigkeit rann aus den Stümpfen und verfärbte den Sand und die weißen Schulpe. Als ich über den Kiesstreifen hinunterging, bemerkte ich, daß eine Reihe von Witzworten, Hakenkreuzen und anderen Zeichen in die graue Haut geschnitten waren, als ob die Verstümmelung dieses reglosen Kolosses eine plötzliche Flut von unterdrücktem Haß freigesetzt hätte. Eine Ohrmuschel war von einer Holzlatte durchbohrt, und mitten auf der Brust hatte jemand ein kleines Feuer abgebrannt. Die Haut war rundherum geschwärzt, und die feine Holzasche wurde noch jetzt vom Wind verweht.
     Ein übler Geruch hüllte den Kadaver ein, das untrügliche Zeichen für die Verwesung, die endlich die gewohnte Kinderschar verscheucht hatte. Ich kehrte um und kletterte auf die Winde. Die aufgedunsenen Wangen des Riesen hatten jetzt die Augen zugequetscht und zogen die Lippen zurück, so daß der Mund weit offenstand. Die vorher gerade, griechische Nase war verbogen und platt, von unzähligen Füßen in das aufgequollene Gesicht gestampft. Als ich den Strand am nächsten Tag wieder aufsuchte, sah ich fast mit Erleichterung, daß der Kopf abtransportiert worden war.
    Es vergingen einige Wochen bis zu meinem nächsten Ausflug zum Strand, und als ich dann ankam, war das Menschliche, das ich vorher bemerkt hatte, völlig verschwunden. Bei näherem Hinsehen war der noch dort liegende Rumpf zweifellos menschenähnlich, aber da alle Glieder abgeschnitten worden waren, zuerst an Knien und Ellbogen, dann an Schultern und Hüften, ähnelte der Leichenrest eher irgendeinem kopflosen Meerestier. Mit diesem Identitätsverlust war das Interesse der Zuschauer geschwunden, und der Strand war menschenleer, bis auf einen Spaziergänger und den Wächter, der in der Tür der Baubude saß.
     Um den Rumpf war ein leichtes, hölzernes Gerüst gebaut worden, an dem ein Dutzend Leitern im Wind schaukelten, und die Umgebung war mit Seilrollen, langen Messern und Haken bestreut. Die Steine waren schmierig von Blut, Knochen und Hautstücken.
     Ich nickte dem Wächter zu, der mich über sein offenes Koksfeuer hinweg streng ansah. Die ganze Gegend erfüllte der stechende Geruch von riesigen Speckbrocken, die in einem Kessel hinter der Bude kochten.
     Beide Oberschenkelknochen waren mit Hilfe eines kleinen Krans weggeschafft worden, in das gazeartige Gewebe eingehüllt, das vorher um die Hüften des Riesen geschlungen war. Die offenen Gelenkpfannen gähnten wie Scheunentore. Oberarme, Schlüsselbeine und Schamteile waren ebenfalls abtransportiert worden. Was von der Haut über Brustkorb und Bauch noch übrig war, war mit einem Teerpinsel mit parallelen Strichen markiert, und die ersten fünf oder sechs Streifen in der Taille waren schon abgelöst und zeigten die riesige Wölbung des

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