Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. G. Ballard
Vom Netzwerk:
wenn die Rede auf die Schlangen kam.
     »Das Ungewöhnliche ist«, erklärte er, »daß sie immer zur selben Zeit herauskommen. Es muß eine präzise Helligkeitsstufe sein, eine exakte Zahl von Photonen, auf die sie alle reagieren – vermutlich ein angeborener Auslöser.«
     Dr. Richard Lowry, Giffords Assistent und seit dessen Unfall der Leiter der Expedition, beobachtete Gifford unbehaglich von der Kante seines Segeltuchsitzes und drehte das Glas unter seiner langen Nase. Er war so placiert worden, daß der Wind von den lockeren Binden um Giffords Fuß zu ihm wehte (nur noch kleine Racheakte dieser Art, so kindisch sie auch waren, hielten Giffords Interesse an den Menschen seiner Umgebung überhaupt wach), und wandte sein Gesicht sorgsam ab, als er fragte: »Aber warum wächst ihre Zahl auf einmal an? Vor einem Monat war noch kaum eine Schlange zu sehen.«
     »Dick, ich bitte dich!« Louise Gifford sah Lowry mit einem gequälten und erschöpften Gesichtsausdruck an. »Müssen wir wirklich?«
     »Es gibt eine naheliegende Erklärung«, sagte Gifford zu Lowry. »Während des Sommers fällt der Wasserspiegel, und das Delta sieht bald aus wie die halbleeren Lagunen, die vor fünfzig Millionen Jahren hier waren. Die Riesenechsen waren ausgestorben, und die kleinen Reptilien waren die vorherrschenden Tierarten. Diese Schlangen tragen vielleicht etwas in sich, was man einen inneren Landschaftscode nennen könnte, ein Bild aus dem Paläozän, so klar wie unsere eigene Erinnerung an New York oder London.« Er wandte sich seiner Frau zu; die von dem Abfallfeuer im Hintergrund geworfenen Schatten folgten seinen Wangen. »Was ist los, Louise? Willst du etwa sagen, du könntest dich nicht an New York oder London erinnern?«
     »Ich weiß nicht, ob ich es kann.« Sie strich sich eine Locke ihres schütter werdenden blonden Haares aus der Stirn. »Ich wünschte, du würdest nicht ständig über die Schlangen nachdenken.«
     »Nun, ich fange an sie zu verstehen. Es war mir immer unverständlich, weshalb sie alle zur selben Zeit auftauchten. Außerdem habe ich sonst nichts zu tun. Ich will nicht hier sitzen und nur eure verdammte Toltekenruine anstarren.«
     Er zeigte auf den niedrigen Sandsteinrücken, dessen Profil sich vor den weißen, vom Mond bestrahlten Wolken abhob und der den Rand der alluvialen Bank knapp einen Kilometer hinter dem Lager markierte. Vor Giffords Unfall hatten ihre Stühle so gestanden, daß sie auf die verfallene Terrassenstadt blickten, die sich aus den Disteln auf dem Höhenrücken erhob. Aber Gifford hatte es satt bekommen, den ganzen Tag auf die brüchigen Galerien und Säulenhallen zu starren, wo seine Frau und Lowry zusammen arbeiteten. Er wies Mechippe an, das Zelt abzubauen und um neunzig Grad zu drehen, so daß er das letzte Licht des verblassenden Sonnenuntergangs über dem westlichen Delta beobachten könnte. Die brennenden Abfallfeuer, denen sie jetzt zugewandt waren, boten wenigstens ein klein wenig Bewegung. Während er so stundenlang über die endlosen Mündungsarme und die Schlickbänke hinausgestarrt hatte, deren gewundene Umrisse immer mehr Serpentinenform annahmen, je länger die sommerliche Dürre anhielt und der Wasserspiegel sank, hatte er eines Abends die Schlangen entdeckt.
     »Sicher ist es einfach ein Mangel an gelöstem Sauerstoff«, bemerkte Lowry. Er merkte, daß ihn Gifford mit einem Ausdruck von kritischem Abscheu ansah, und fügte hinzu: »Jung glaubt, die Schlange sei primär ein Symbol für das Unbewußte, und ihr Erscheinen kündige immer eine seelische Krise an.«
     »Ich glaube, das akzeptiere ich«, sagte Charles Gifford. Mit einem recht gezwungenen Lachen, den Fuß unter dem Bügel schüttelnd, fügte er hinzu: »Ich muß wohl. Nicht wahr, Louise?« Bevor seine Frau, die mit einem abwesenden Ausdruck die Feuer beobachtete, etwas erwidern konnte, fuhr er fort: »Obgleich ich mit Jung nicht übereinstimme. Für mich ist die Schlange ein Symbol der Verwandlung. Jeden Abend bei Sonnenuntergang werden hier die großen Lagunen des Paläozän wieder erschaffen, nicht nur für die Schlangen, sondern auch für euch und für mich. Nicht umsonst gilt die Schlange als Symbol der Weisheit.«
     Richard Lowry sah mit hochgezogenen Brauen in sein Glas. »Ich bin davon nicht überzeugt, Sir. Es war der primitive Mensch, der die Begebenheiten seiner äußeren Umwelt in seiner Psyche verarbeiten mußte.«
     »Absolut richtig«, erwiderte Gifford. »Wie sonst wäre die Natur

Weitere Kostenlose Bücher