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Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. G. Ballard
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Schmerzen in seinem Fuß heftig wurden, wachte er auf und fand Louise neben sich. Während der ganzen Zeit sank er von einer Traumebene zur nächsten, hinabgeführt von den großen Mandalas, die ihn auf den Thron ihrer leuchtenden Scheiben setzten.
     Während der nächsten Tage wurden die Gespräche mit seiner Frau seltener. Während sein Zustand sich verschlimmerte, war Gifford kaum noch zu mehr imstande, als auf die Schlickbänke hinauszustarren, und nahm Bewegungen und Äußerungen in seiner Umgebung fast nicht wahr. Seine Frau und Mechippe bildeten eine dünne Verbindung zur Wirklichkeit, aber sein wahres Interesse konzentrierte sich nur noch auf die Windungen der Uferränder, an denen abends die Schlangen erschienen. Dies war ein Abschnitt vollkommener Zeitlosigkeit, in der ihm die Gleichzeitigkeit aller Zeit und das Nebeneinander aller Ereignisse in seinem bisherigen Leben bewußt wurden.
     Die Schlangen erschienen nun eine halbe Stunde früher. Einmal sah er ihre reglosen weißen Leiber in der heißen Mittagssonne an den Böschungen liegen. Ihre kalkweiße Haut und ihre angehobenen Köpfe ließen sie unermeßlich alt erscheinen, wie die weißen Sphinxe in den Pharaonengräbern von Karnak.
     Obgleich seine Kräfte deutlich nachgelassen hatten, war die Infektion in seinem Fuß nur um etliche Zentimeter über den Knöchel gestiegen, und Louise Gifford erkannte, daß der Verfall ihres Mannes das Symptom für eine tiefgehende, psychologische Unzuträglichkeit war, ein mal de passage, hervorgerufen durch die machtvolle Atmosphäre der Landschaft und die von ihr heraufbeschworene Lagunenwelt des Paläozän. Sie schlug Gifford in einem seiner klaren Momente vor, das Lager einen Kilometer weiter hinüber in den Schatten des Bergrückens zu verlegen, in die Nähe der toltekischen Terrassenstadt, wo sie und Lowry ihren archäologischen Arbeiten nachgingen.
     Aber Gifford hatte das abgelehnt; er wollte sich nicht von den Schlangen am Ufer trennen. Aus irgendwelchen Gründen haßte er die Terrassenstadt. Nicht etwa, weil er sich dort die Verletzung zugezogen hatte, die jetzt sein Leben bedrohte. Er akzeptierte ohne Einschränkung, daß das einfach ein Unglücksfall ohne besondere symbolische Bedeutung war. Aber die Gegenwart der rätselhaften Terrassenstadt mit ihren verfallenen Galerien und Innenhöfen, überwuchert von Riesendisteln und Drahtmoos, erschien wie ein riesiges Menschenwerk, das dem überwirklichen Naturalismus des Deltas entgegenwirkte. Jedoch, die Terrassenstadt wie das Delta bewegten sich in der Zeit zurück, die barocken Schnörkel der Schlangengötter in den Friesen lösten sich auf und wurden ersetzt durch die verschlungenen Moosranken, die pseudoorganischen Formen, die der Mensch bei der Darstellung der zum Anfang zurückkehrenden Natur herstellt. In einem gewissen Abstand, gleich einer riesigen Hintergrundkulisse, schien die alte Toltekenruine im Staub zu liegen wie ein verwesendes Mastodon, ein sterbender Berg, dessen düsterer Traum von der Erde Gifford mit seiner leuchtenden Gegenwart umfing.
    »Fühlst du dich gut genug, um weiterzuziehen?« fragte Louise Gifford, als sie nach einer weiteren Woche noch keine Nachricht von Mechippes Boten hatten. Sie betrachtete ihn kritisch, wie er dalag, im Schatten des Sonnendachs, sein magerer Körper fast in den Falten der Decke verloren, über seinem Bein das gewaltige Zelt; nur an dem arroganten Gesicht mit den steifen Bartstoppeln erkannte sie ihn noch. »Wenn wir dem Suchtrupp entgegengingen…«
     Gifford schüttelte den Kopf. Sein Blick wanderte über die ausgebleichte Ebene zu den fast ausgetrockneten Armen des Deltas. »Was für ein Suchtrupp? Es gibt zwischen hier und Taxcol kein Boot, das flach genug wäre.«
     »Vielleicht schicken sie einen Hubschrauber. Man könnte uns aus der Luft sehen.«
     »Hubschrauber? Du bist verrückt, Louise. Wir werden gewiß noch eine Woche hier sein.«
     »Aber dein Bein«, sagte seine Frau beharrlich. »Ein Arzt sollte…«
     »Wie kann ich von hier weg? Auf einer Tragbahre hin und her geschüttelt, wäre ich in fünf Minuten tot.« Er sah müde zu dem sonnenverbrannten Gesicht seiner Frau auf und wartete darauf, daß sie weggehen würde.
     Sie stand unschlüssig über ihn gebeugt. In fünfzig Meter Entfernung saß Richard Lowry vor seinem Zelt und beobachtete sie still. Unwillkürlich, bevor sie sich zurückhalten konnte, fuhr ihre Hand hoch, um ihr Haar zu richten.
     »Ist Lowry da?« fragte

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