Der unsichtbare Killer
den Wecker und hielt ihn sich dicht vors Gesicht – nur so vermochte er die leuchtenden grünen Zahlen zu entziffern.
6:57 Uhr.
»Scheiße.« Er konnte nicht aufhören zu gähnen. Sein Bodymesh hatte Wachstatus registriert und wartete die voreingestellte Minute ab, bevor es die Displays und Audiotöne aktivierte. Dann entfalteten die Iris-Smartcells das Geisterpantheon vor seiner Sicht, welches ihr grundlegendes Icon-Rasternetz darstellte.
»Wann bist du denn nach Hause gekommen?«, fragte Jacinta. Sie sah ihn verwundert an. Er schaffte es, im Gegenzug schwach zu grinsen, und genoss einen Moment lang einfach nur ihren Anblick. Jacinta war bloß drei Jahre jünger als er, aber die Zeit war an ihr so viel spurloser vorübergegangen. Ihr Haar war jetzt kürzer als damals in London, als sie sich kennengelernt hatten, aber immer noch üppig und um diese Morgenstunde stets ungezähmt und zerzaust. Und auch ihre Figur war noch genauso tipptopp, schlanker, als man es bei einer Mutter von zwei Kindern annehmen würde. Das war alles in erster Linie auf ihre große Entschlossenheit zurückzuführen. Ohne ein überflüssiges Pfund und mit ihren durch eiserne, regelmäßige Gymnastikübungen trainierten Muskeln war sie zum Anbeißen fit. Am meisten von allem aber war es ihre Haut, die über ihr Alter hinwegtäuschte; sie war so glatt und straff wie seit eh und je und schien jedem Fältchen erfolgreich zu trotzen. Was allerdings nicht gar so erstaunlich war angesichts des Umstands, dass sie die Hälfte ihres OP-Schwestern-Gehalts für Cremes, Lotionen, pharmazeutische Gels und viele, viele andere Produkte aus jener Kaufhausabteilung draufgehen ließ, die Männer Angst hatten zu betreten.
Scharfe, grüne Augen spähten zu ihm hinüber, während der erste Haarclip an seinen Platz geklemmt wurde. »Hallo?«
»Ungefähr halb vier«, erwiderte er.
»Oh Liebling! Wieso? Was ist passiert?« Mit einem Mal war sie wieder das Mitgefühl selbst.
»Ich hatte einen Eins-Null-Eins.«
»Nein! Am ersten Abend schon wieder? Das ist echt Pech.«
»Es kommt noch schlimmer«, sagte er. »Erzähl’s auf der Arbeit bitte nicht rum, okay – aber das Opfer ist ein North.«
»Ach du Scheiße«, stieß sie halb flüsternd aus.
»Wie man’s nimmt.« Er zuckte die Achseln. »O’Rouke wird mich wohl, kaum dass die Frühschicht angefangen hat, von dem Fall abziehen.«
»Bist du sicher?«
»Oh ja. Die Untersuchung muss absolut korrekt durchgeführt werden.«
»Das kannst du doch auch«, entgegnete sie sogleich und nicht nur ein bisschen empört.
»Ja, schon.« Das war die Schande an der Sache: Er wusste, dass er die Untersuchung wirklich leiten konnte, und zwar gut leiten. Tatsächlich hatte ihm die Herausforderung, die halbe Nacht lang eine Fallstrategie auszuarbeiten, damit die Frühschicht direkt loslegen konnte, sogar ganz gut gefallen. So war das mit den Karrierekillern – wenn man es richtig machte, konnten sie genauso leicht zu einem Karriere sprungbrett werden. »Aber ich bin erst sechs Stunden wieder im Dienst.«
Sie sah ihn mit einem vielsagenden Blick an. »Ja, Schatz, aber lass uns nicht vergessen, wieso, okay? Die Norths werden jemanden wollen, von dem sie wissen, dass er gut ist.«
»Was auch immer …«
Ein lauter Rums auf dem Flur, gefolgt von einem entrüsteten Aufschrei, kündigte den allmorgendlichen Streit zwischen William und Zara ums Badezimmer an. Prompt setzte in der nächsten Sekunde das Getrommel von Wills Fäusten gegen die Tür ein, der seine jüngere Schwester anschrie, ihn reinzulassen. »Ich kann nicht warten, du doofe Kuh«, brüllte er.
Dumpf kam ihre despektierliche Antwort zurück.
»Du wirst sie wohl heute für mich in die Schule bringen müssen«, sagte Sid, in der Hoffnung, die kleine Planänderung würde in dem allgemeinen morgendlichen Chaos nicht weiter hinterfragt.
»Von wegen!«, rief Jacinta auf. »Wir waren uns einig. Ich hab mich für heute Morgen für einen kompletten Herzaustausch eingetragen. Sauteure Retortenpumpe mit DNA-Screening und allem. Die Versicherung der Patientin zahlt alles, einschließlich Sondervergütung fürs OP-Personal.«
»Ich hab einen Eins-Null-Eins mit einem North an der Backe.«
»Hast du nicht gerade noch gesagt, dass man dich von dem Fall direkt wieder abziehen wird?«
»Ach, hör doch auf, ey.«
Sie lachte verächtlich ob seines Versuchs, den lokalen Slang, das Geordie, zu sprechen. »Mein Termin heute steht schon seit vor Weihnachten im Kalender.«
»Aber
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