Der unsichtbare Mond
meinst du das?«
Shingo blinzelte ungläubig. »Du meinst, du weißt es nicht? Du weißt nicht einmal von Mutter und…«
»Und Wasily? Natürlich habe ich das gewusst, Earl.«
Auf der Stelle schien die Kraft aus Shingos Armen zu weichen. Meredith zog die Stange aus ihrem Hals und flüchtete, während sie versuchte den Blutfluss zu stillen. Ein Wunder, dass sie noch lebte. Doch ihr war bereits klar geworden, dass sie schwerer umzubringen war als früher.
Shingo blickte Tetsuo an. Er war wieder zum Kind geworden, das sich an seinen Vater wendet, um Antworten zu erhalten. »Warum dann?«, fragte er. »Warum hast du es geschehen lassen, wenn du es gewusst hast?«
»Weil«, sagte Tetsuo, »ich mich einem Mann gegenüber sah, der seine Familie um ihrer selbst willen aufgegeben hatte, und der beinahe sein Leben gegeben hätte, um mich und die Meinen zu retten. Als ich herausfand, dass er und Fuji sich nahe standen und du nicht mein Kind warst, sondern das seine, traf ich dieselbe Entscheidung, die er in Bezug auf Meredith und Elena getroffen hatte – nur dass ich nicht stark genug war, um fortzugehen.«
Shingo hörte zu und blickte dann zu Tetsuo auf, kalten Wahnsinn in den Augen. »Es ist deine Schuld. Es ist alles deine Schuld.« Er hob eine Betonplatte über seinen Kopf. »Du hättest zulassen sollen, dass sie mich tötet, Vater.« Unvermittelt wandte er sich um und Meredith wusste, dass er sie erschlagen würde. Sie schloss die Augen.
Bevor er zuschlagen konnte, erschütterte eine Explosion die Halle. Meredith öffnete die Augen und stellte fest, dass sie Herold mit einem Mal durch Shingos Brust hindurch sehen konnte – durch das gähnende Loch, das Herold ihm gerade in die Brust geschossen hatte.
»Hunderttausend Höllenhunde«, sagte Oly leise.
Alle blickten zu Herold hinüber, der blutend in der Ecke saß.
»Schwarzpulver und Kugellager«, sagte Herold, der etwas hielt, das wie eine abgesägte Schrotflinte aussah, die er aus seiner allgegenwärtigen Tasche gezogen hatte. »Ein elektromagnetischer Impuls kann Schwarzpulver und Kugellagern absolut nichts anhaben.«
Shingo blieb noch einen Augenblick stehen, dann durchlief ihn ein Zittern und er ließ die Betonplatte geräuschvoll zu Boden fallen, bevor er zusammenbrach.
Tetsuo konnte den riesigen, unförmigen Körper seines Sohnes nur schmerzerfüllt anstarren. Delna ergriff seine Hand und führte ihn in seine Privaträume, die vom Feuer unversehrt geblieben waren.
Unvermittelt machten die Wölfe einen Buckel und knurrten etwas an, das sich in den Trümmern bewegte. Metallstangen und Holzkohle wurden zur Seite geschoben, und der rote, blasenübersäte Kopf von Glen Beecroft tauchte auf.
»Bei allen Heiligen«, sagte Glen. »Was für eine coole Party.« Es gelang ihm, sich zu befreien, und nachdem Meredith ihn in Delnas Richtung gewiesen hatte, stolperte er davon, um sich mit Salbe einzureiben.
Beinahe erwartungsvoll wandten sich die Wölfe Meredith zu.
»In Ordnung«, sagte sie. »Ich glaube, ihr könnt jetzt gehen.«
Die Wölfe neigten demütig die Köpfe. Dann kam einer nach dem anderen unterwürfig und leise winselnd auf sie zu, um ihre Hand zu lecken. Schließlich liefen sie lautlos hinaus, in einer Prozession grauer, weißer und braungefleckter Leiber, und verschwanden weit unauffälliger als sie gekommen waren.
Wie um sein Revier wieder in Besitz zu nehmen, hinkte Oly hinter ihnen her und bezog auf der Veranda Stellung.
Innerhalb von kürzester Zeit war das Gebäude leer, bis auf Meredith, Herold und das sterbende Ungeheuer, das ihr Geliebter und Freund gewesen war.
Meredith war nicht sicher, wie lange sie und Herold dagesessen und einander betäubt angesehen hatten, als eine Stimme sie aus ihrer Trance riss.
»Das hat man also davon, wenn man mit einer älteren Frau schläft.«
Es war Shingo. Kaum vorstellbar, aber er war nicht tot.
»Mann«, sagte Herold, »wer zum Teufel bist du eigentlich – Mister Spock?«
Shingo drehte den Kopf herum, um Meredith anzusehen. »So habe ich mir das nicht vorgestellt, Meredith. Ich dachte, nach dem was wir entdeckt haben, könnten wir gemeinsam fortgehen und glücklich sein, ganz gleich was mit dem Rest der Welt passiert. Wenn ich bei dir bin, könnte ich vergessen, was ich weiß.«
»Verdammt, Shingo, was weißt du? Was war noch in dieser bescheuerten Kiste?«
Er kicherte mit aufgerissener Kehle. »Briefe zum Beispiel, die vor deiner Geburt an deine Mutter geschrieben worden waren. Sie
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