Der unsichtbare Mond
waren alle zurückgekommen. Dann einige persönliche Aufzeichnungen darüber, wie Wasily nach deiner Geburt weggeblieben war, aus Gründen des Anstandes. Ich habe einfach zwischen den Zeilen gelesen und den Schluss gezogen, dass Michael und nicht Wasily dein wirklicher Vater war. Das war jedoch noch nicht das Interessanteste.«
»Sondern was?«
»Andere Papiere – Beweise dafür, dass wir alle lediglich Schachfiguren sind in einem Spiel, dass größer ist, als sich irgendjemand vorstellen kann. Ein Spiel, das anfing, als Hagen Siegfried erschlagen hat.«
»Du meinst Michael? Es fing an, als er Michael umgebracht hat?«
Shingo schüttelte schwach den Kopf. »Siegfried… als er Siegfried erschlagen hat.«
»Aber das war nur eine Oper – eine Oper bei diesen bescheuerten Festspielen! Sie hätten nicht einmal dort sein dürfen!«
»Doch… doch, das mussten sie. Es gab Gründe für das, was sie getan haben. Und für die Worte, die sie gesprochen haben.«
Meredith schüttelte den Kopf. »Michael hat das alles getan, um einen psychotischen Kollegen zu beruhigen – Michael hat nur eine Rolle gespielt!«
»Nein… das hat er nicht.«
Da fing Herold zu lachen an: ein irres, schmerzerfülltes, hohes Kichern. Er war nicht so stark wie sie und der Schock schien nachzulassen. »Einige Teile dieses Puzzles übersteigen unser Verständnis, Reedy. Teile, die höchst wichtig sein mögen und doch einen Scheißdreck wert sind, wenn man das Gesamtbild nicht kennt.«
»Wovon sprichst du? Die Bücher? Die Briefe in dem Karton? Oder die Noten? Die Notenblätter, die ihr gefunden habt?«
»Die Noten – hast du sie gesehen, Meredith?«
»Ja. Mr. Janes hat sie gefunden und mir gezeigt, aber ich kenne ihre Bedeutung nicht.«
»Sie haben keine Bedeutung«, fauchte Shingo, »jetzt nicht mehr.« Unvermittelt krümmte er sich und hustete Blut.
»Trotzdem ist das seltsam«, sagte Herold. »Hagen glaubte den Schlüssel zu den Geheimnissen der Welt in einer Symphonie gefunden zu haben und Siegfried meinte, er habe ihn in einer Oper entdeckt. Und beide hatten Recht – nur dass Hagen als erster die Initiative ergriffen und gehandelt hat.«
»Was willst du sagen, Herold?«, drängte Meredith. »Was geht hier vor?«
Herold räusperte sich. »Der Karton, den wir gefunden haben, enthielt zahlreiche persönliche Papiere deines Vaters, obwohl ich das erst später herausgefunden habe. Shingo wollte sie durchsehen und sie dann vertraulich mit dir besprechen. Angesichts eurer Beziehung hielt ich das für angemessen. Abgesehen von den persönlichen Papieren fanden wir noch andere Dinge: die gesamten Akten über Michaels Ankäufe für die Universität, über jedes seltene Schriftstück, das er während seiner Zeit dort erworben hatte, komplett mit Quittungen und dergleichen. Ihr Verschwinden könnte bei seiner Entlassung eine Rolle gespielt haben. Außerdem fanden wir noch einige Bücher, die sich mit der Edda beschäftigen.«
»Mr. Janes hat eines davon gelesen«, sagte Meredith. »Aber ich habe weder die Bedeutung des Buches, noch seine Worte verstanden.«
Herold nickte. »Verständlich. Vieles davon ergab keinen Sinn, bis wir uns intensiver mit den Papieren beschäftigt hatten. Der Karton mag dem Institut für Mathematik zuzuschreiben sein, doch beinahe alle Anmerkungen, die die Gegenstände in der Kiste zierten, stammten vom Leiter des Instituts für Musiktheorie an der Universität.«
»Und?«
Shingo schnaubte, eine Mischung aus Verachtung und Resignation. »Der Leiter des Instituts für Musiktheorie war Mikaal Gunnar-Galen – unser Hagen.«
Herold hustete zustimmend und fuhr fort. »Shingo hat als erster diesen Zusammenhang erkannt«, gab er zu. »Dennoch blieb die Frage offen, was die Noten – alles Schubert – mit Michael, Wagner und der Edda zu tun hatten oder auch nicht. Ich begann die Parallelen zu sehen, als wir die Edda-Seite fanden, Reedy. Wagner sah etwas, nun, Ungewöhnliches darin und versuchte es in seine Oper einzuarbeiten. Genauso wie Schubert außergewöhnliche Dinge in den Schriften von Goethe sah.«
»Da komme ich nicht mehr mit.«
»Sieh es einmal so, Reedy: Goethe stellt für die deutsche Literatur ungefähr das dar, was Shakespeare für die englische ist. Oder in diesem Zusammenhang treffender: was Sturluson für die altnordische Literatur war. Während Wagner versuchte, bei Sturluson tiefere Bedeutungen zu finden, die er in den Ring integrieren konnte, versuchte Schubert ähnliche Einsichten über das
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