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Der unsichtbare Mond

Der unsichtbare Mond

Titel: Der unsichtbare Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A. Owen
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Funktionieren der Welt in den Gedichten Goethes zu finden. Er vertonte zahlreiche seiner Gedichte, doch nur eines wurde zu einer ausgewachsenen Symphonie ausgearbeitet. Und es war dieses unvollendete Werk, das Hagen an der Universität auseinander nahm und das aus irgendeinem Grund hier gelandet ist.«
    Meredith schüttelte den Kopf und versuchte, aus diesen Informationen schlau zu werden. »Willst du damit sagen, dass die verbrannten Papiere Schuberts Originalkompositionen waren?«
    »Nein – aber unter ihnen befand sich eine Kopie des ersten Entwurfs der neuen Symphonie, an der Schubert schrieb. Das war es, woran Hagen – oder Galen – gearbeitet hat, obwohl ich noch immer nicht weiß, was es mit Michael oder der Edda zu tun hatte.«
    »Wie hieß die Symphonie?«
    »Die Erlkönige.«
    »Der Erlkönig?«, fragte Meredith verwirrt. Das war der Name eines bekannten Gedichts und einer musikalischen Komposition. Es schien unwahrscheinlich, dass es sich dabei um das Thema einer ernsthaften, akademischen Studie handeln sollte.
    »Erlkönige«, berichtigte Herold, »Plural. Schubert war anscheinend über Goethe hinaus zu einer tiefer liegenden, älteren Quelle vorgedrungen, wie Wagner es mit dem Ring getan hatte – er hatte die Wölsungensaga übersprungen und war direkt zu Sturluson übergegangen. Wagner wollte eine eindeutigere Interpretation des Materials erreichen, das er in mehr als einer Hinsicht für authentisch hielt. Schubert versuchte das gleiche, auch wenn ich keine Ahnung habe, zu welchem Zweck.«
    Darauf erfüllte ein raues, bitteres Lachen den ausgebrannten Raum. »Ihr Idioten«, krächzte Shingo. »Ihr kapiert überhaupt nichts, was? Sie haben nach den ältesten Geschichten gesucht, den Ur-Geschichten. Als die Welt erschaffen wurde, waren Geschichten keine Unterhaltung – sie waren Berichte darüber, wie das Universum funktioniert. Und nur weil die Menschen aufgehört haben, diese Geschichten zu erzählen, heißt das noch lange nicht, dass die Maschinerie der Götter ebenfalls zum Stillstand gekommen ist. Sie warten nur darauf, dass jemand kommt und die Zügel wieder in die Hand nimmt. Das war es, was Wagner und Schubert versucht haben und was Hagen in die Tat umgesetzt hat – er bringt eine der ältesten Geschichten zu Ende, die die Welt beherrscht haben.«
    »Halt den Mund, du dummer Warg«, sagte Herold. »Du wirst ohnehin in wenigen Minuten tot sein.«
    Shingo hob unter Mühen den Kopf und sprach weiter. »Wenn Hagen das Herz findet, wird es nicht lange dauern, bis ihr mir folgt.«
    »Das Herz?«, fragte Meredith. »Du meinst den Schatz – den Schatz der Nibelungen? Das Gold?«
    Shingo kicherte; blutiger Speichel verteilte sich auf seiner Brust. »Das ist der Irrsinn der Geschichte – Wahrheit geht inmitten von Geschichten und Mythen verloren, und das ist der Fehler, den die Menschheit begeht. Nicht alle Mythen sind nur Geschichten, manche von ihnen sind wahr.« Er hustete erneut, seine Brust rasselte. Meredith stützte ihn so gut sie konnte – er war um einige hundert Kilo schwerer als sie. »Eure Dichter und Musiker haben etwas verstanden, das allen anderen entgangen zu sein scheint. Meistens haben die Menschen Dinge übersehen, weil sie nicht wahrnehmen konnten, was sich direkt vor ihnen befand.«
    »Da hast du Recht«, sagte Herold. »Wie es aussieht, wird zu viel Geschichte von Metaphern verdunkelt. Aber wenn das, was von der Originalquelle übrig bleibt, überschrieben wird, wie das Palimpsest der Ur-Edda, dann gehen wertvolle und lebenswichtige Verbindungen zur Vergangenheit verloren.«
    »Was stand in dem Palimpsest, Herold?«
    »Oh, tolles Zeug«, sagte er hustend. »Ich wünschte, ich hätte das gesamte Ding in Händen. Aber die erste Zeile hatte es bereits in sich. Sie gab den Namen des Buches wieder, ebenso wie den Namen des Allvaters der Götter – ›Das Buch des Alberich‹.«
    »Alberich?«, sagte Meredith. »Hagens Vater? Was bedeutet das?«
    »Das bedeutet«, fauchte Shingo, »dein Hagen kann verdammt noch mal so ziemlich machen, was er will. Und wenn es sein Wunsch ist, den Schatz zu finden und die Welt zu beherrschen, dann wird er das wahrscheinlich auch tun – ganz gleich, wessen Schrift er verwendet.«
    »Was ist also die Wahrheit?«, fragte Meredith. »Dass er nach alten Geschichten sucht? Dass es kein Nibelungengold gibt?«
    »Es gibt einen Schatz, aber es ist kein Gold«, sagte Shingo. »Hagen… er sucht nach dem Herzen der Welt. Es liegt reglos in einer Truhe aus

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