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Der unsichtbare Turm

Der unsichtbare Turm

Titel: Der unsichtbare Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nils Johnson-Shelton
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Numinaes Hand abgelenkt: Hinter seinem Meister Numinae lag eingerollt der schlangenhafte Körper von Tiberius.
    Doch der wichtigste Grund war Numinae selbst, denn er war eine groteske Kreatur. Es war, als könnte er sich nicht entscheiden, welcher Baum er sein wollte.
    Numinae wechselte in einem fort die Gestalt – von der einer stämmigen Eiche, über die einer ausladenden Kastanie zu der einer schlanken Erle; er verwandelte sich in eine Schierlingstanne, eine Zeder und eine Fichte; und dann war er auf einmal eine Buche, eine Birke und schließlich eine Schwarz-Esche.
    Und doch war er gleichzeitig auch ein Mann. Der Stamm spaltete sich in zwei Beine und die langen Äste an der Seite waren eindeutig Arme. Sein Kopf veränderte die Form, blieb jedoch immer an derselben Stelle und durch die Blätter, Zweige und Nadeln hindurch konnten Artie und Kay seine Gesichtszüge erkennen: schräg liegende Augen, eine lange Nase, hohe Wangenknochen, jedoch keine Spur eines Mundes.
    Er stand vor ihnen, seine Hand noch immer ausgestreckt. Kay beschwor Artie: »Worauf wartest du noch?«
    Dort war der Schlüssel, den sie gesucht hatten. Genau vor ihnen, in der Handfläche, die sich ihnen entgegenstreckte und auf den Kamm wartete – oder auf Arties Schwert.
    Doch Artie weigerte sich, sie ihm einfach abzuhauen.
    Erst musste er wissen, was dieses Wesen mit Qwon gemacht hatte.
    Artie nahm den Kamm von Kay und legte ihn Numinae in die Hand. Kay schnaubte wütend. Sie konnte es nicht fassen.
    Numinae schloss seine harten, knorrigen Finger um den Kamm, die dabei knackende Geräusche machten wie brechende Äste. Er zog seine Hand zurück und verstaute den Kamm irgendwo in seinem Körper. Dann machte er einen kurzen Schritt zurück und hörte schließlich auf, sich in immer neue Baumarten zu verwandeln.
    Nun stand Numinae in seiner wahren Gestalt vor ihnen.
    Er war groß und kräftig wie ein Centerspieler im Profi-Basketball, seine Hände waren riesig und seine Schultern breit. Seine Haut bestand aus einer nahtlosen Fläche von leuchtendem, lebendigem Moos. An einigen Stellen waren Muster eingeritzt, die Artie an Merlins Tattoos erinnerten, und kleine bonsaiartige Bäume waren auf seinem ganzen Körper ebenfalls zu Mustern arrangiert. Auf seinem Scheitel wuchs eine verkrüppelte Miniaturbirke, und auf einem Ohr stand eine knorrige Zeder wie eine Radioantenne. Seine Augen waren atemberaubend. Der Teil, der weiß hätte sein sollen, war schwarz, seine Iris waren knallgrün und seine Pupillen weiß wie frischer Schnee.
    Dann begann er zu sprechen, und sein Mund brach durch das Moos auf seiner unteren Gesichtshälfte. Es war verdammt unheimlich. »Danke für den Kamm«, sagte er, wobei er sich leicht verbeugte und ihnen seine offenen Hände in einer Geste der Dankbarkeit entgegenhielt. Seine vielschichtige Stimme klang wie Wind, der durch die Nadeln eines Pinienwaldes streicht. Als er den Satz beendet hatte, schloss sich sein Mund und verschwand wieder unter der Moosschicht.
    Artie war sprachlos. Er wollte Numinae einfach nur fragen, wo Qwon war, doch er konnte nicht.
    Kay hingegen war überhaupt nicht gehemmt. Auch sie wollte wissen, wo Qwon hingekommen war, aber mehr als alles andere wollte sie sich den Schlüssel holen und dann so schnell wie möglich durch ein Mondtor weg von diesem Ort. Während Artie dastand und den Waldgeist anstarrte, wurde Kay aktiv und ließ Cleomedes in Richtung seines faserigen grünen Handgelenks schnellen.
    Der Drache, den Kay schon gar nicht mehr beachtet hatte, schüttelte den Kopf und schnaubte. Bevor sie ihren Schlag platzieren konnte, wurde sie von Tiberius’ Versteinerungs-Atem getroffen. Ihr Arm blieb in der Luft stehen und beinahe wäre sie umgekippt. Ungläubig starrte sie auf ihren Körper: Ihre gesamte rechte Seite, Cleomedes eingeschlossen, war von knirschendem, sich windenden schwarzen Basalt eingehüllt.
    Kay platzte heraus: »Tiberius, warum hast du …«
    Der Drache schnitt ihr das Wort ab: »Hmmmpf. Sein Beschützer ich bin. Der Lord und der kindliche König müssen verhandeln.«
    »Aber mein …«
    »Still!«, dröhnte der Drache eindrucksvoll. »Oder ich hülle dich gänzlich ein, so wie Narr Däumling!«
    Kay biss sich auf die Lippe und betrachtete mürrisch ihren versteinerten Arm.
    Numinae, der diesem Gespräch kaum Beachtung schenkte, sagte zu Artie: »Stellt Eure Frage. Wir haben nicht viel Zeit.«
    Wie aufs Stichwort verdunkelte sich der Himmel. Ein Sturm kam im Osten auf und bewegte

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