Der Untergang
gescheitert war, sah er jetzt die Gelegenheit gekommen, seine Absichten doch noch durchzusetzen, und hatte unlängst erst Hitlers Zustimmung erwirkt, Frauenbataillone aufzustellen. In allen Erörterungen über die Fragen von Stellungsbau und Einsatz bestand er zudem eifersüchtig darauf, daß er allein für die Verteidigung der Stadt verantwortlich sei. Bezeichnenderweise betrachtete er denn auch Reymann als seinen Untergebenen und legte bei allen Besprechungen Wert darauf, daß der Kommandant in seinem Büro erscheine. Aus dem ganzen Galimathias von widersprüchlichen Zuständigkeiten, den steten Personalveränderungen, dem Durcheinanderreden im Befehlsbereich sowie der Unübersichtlichkeit der vorhandenen Kräfte und Mittel ergab sich ein Wirrwarr, der die Verteidigung der Stadt weit mehr behinderte als ermöglichte.
Hinzu kam, daß Goebbels ohne Rücksicht auf die Anordnungen der Militärs eigene »Verteidigungsbefehle« erließ und beispielsweise jeden Montag einen »Großen Kriegsrat« einberief, der sämtliche Kommandeure, die höheren SS- und SA-Führer, ferner den Oberbürgermeister sowie den Polizeipräsidenten der Reichshauptstadt bis hin zu den einflußreichen Vertretern der Industrie vereinte. Tag für Tag schickte er zudem seine »Greiftrupps« mit dem Auftrag los, die Betriebe und Behörden der Stadt nach fronttauglichen Personen zu durchkämmen. Aber die Zahlen, mit denen er aufwartete, machten keinen Eindruck mehr, auch wenn er die Häufchen bedrückter Zivilisten, die schließlich zusammengetrieben wurden, zu Regimentern ungeduldiger, auf den Einsatz brennender Kämpfer »für Führer und Vaterland« umformte.
Es fehlte indes zugleich an allem anderen: an Panzern,
Geschützen und Einzelwaffen, an Treibstoff und Schanzgerät jeder Art. Im Tiergarten übten Volkssturmeinheiten den Feindeinsatz, indem sie durch das Gelände robbten, während seitab, verborgen im Buschwerk, ihre Mitkämpfer mit Stöcken auf leere Blechbüchsen schlugen, um das Maschinengewehrfeuer zu imitieren. Anderswo verwandte man Papprollen zur Ausbildung an der Panzerfaust oder errichtete aus Pflastersteinen, vom Luftkrieg zertrümmerten Kraftfahrzeugen, Bettgestellen und Gerumpel aller Art Straßensperren. Jedem Volkssturmmann standen schließlich, sofern er überhaupt ein Gewehr erhielt, fünf Schuß Munition zur Verfügung. Aber vielfach geriet er damit nur in neue Verlegenheit. Während die Waffen zumeist aus deutscher oder tschechischer Produktion stammten, kamen die Patronen aus Italien, Frankreich oder anderen Ländern, die mit oder gegen Deutschland Krieg geführt hatten. Insgesamt gab es neben den Jagd- oder Sportflinten, die der Ablieferungspflicht unterlagen, mehr als fünfzehn verschiedene Gewehrtypen sowie eine nahezu unübersehbare Zahl von Munitionsfabrikaten. Nichts paßte mehr zusammen. Es war wie ein Abbild der Desorganisation, die auf deutscher Seite um sich griff.
Tatsächlich zogen auf manchen der großen Ausfallstraßen
Einheiten des Volkssturms oder der Wehrmacht zur Verteidigung in einen der Vororte aus, während ihnen auf der gegenüberliegenden Straßenseite andere Verbände mit dem Auftrag entgegenkamen, den Flugplatz Tempelhof oder den Westhafen nahe der Innenstadt zu sichern. Von General Reymann verlautete, daß die Stadt verlassen könne, wer immer zum Waffendienst untauglich sei. Doch zur gleichen Zeit ließ Goebbels an jeder Haustür eine Bekanntmachung anschlagen, wonach »auf Befehl des Führers … alle Männer vom 15. bis zum
70. Lebensjahr« ihrer Gestellungspflicht nachzukommen hätten, Ausnahmen würden nicht gemacht. »Wer sich feige in den Luftschutzräumen verdrückt«, hieß es am Ende, »ist vor ein Kriegsgericht zu stellen und wird mit dem Tode bestraft.« Unverdrossen gaben sich einzig die Propagandatechniker. Tag
für Tag trieben sie, wie Goebbels mit kaltem Zynismus erklärte, ihr »bestes Pferd im Stall« vor die verängstigten Menschen: das detailreich ausgemalte Grauen vor der »Bolschewisierung Gesamteuropas« mit den Bergen von Erschlagenen, den vergewaltigten Frauen sowie hingeschlachteten Kindern. Und Bormann ergänzte, diese »Walze« könne man »in immer neuer Spiegelung ablaufen lassen«, die einprägsamen Schreckensbilder würden die äußerste Kampfentschlossenheit wecken und womöglich sogar die gegnerische Koalition auseinanderbringen.
Seit zu Beginn der zweiten Aprilhälfte die Berliner Zeitungen ihr Erscheinen eingestellt hatten, übernahmen gezielt
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