Der Untergang
Vorzeigeklischee des Deutschen schlechthin geworden.
Diese meist summarischen Darlegungen zu Charakter und Geschichte der Deutschen haben sich im ganzen überwiegend selbst erledigt. Denn im Grunde setzten sie noch nachträglich die nationalsozialistische These ins Recht, wonach Hitler nicht nur der legitime Erbe Preußens und des Bismarckreiches, sondern auch der Vollender der deutschen Geschichte sei. Geblieben und in unterdessen ungezählten Untersuchungen erörtert ist hingegen die Frage nach den Verbindungslinien, die sich aus der Vergangenheit zu Hitler und dem Ideologienwerk ziehen lassen, das seinen Aufstieg ermöglicht oder doch begünstigt hat.
Man hat in der Begründung dieser Zusammenhänge Spuren verfolgt, die weit zurückgehen, bis sie sich irgendwo im Sand der Geschichte verlieren. Da war die Wirklichkeitsabgewandtheit des deutschen Denkens mitsamt einem hochfahrenden Kulturbegriff, der das Politische verachtet und jedenfalls nicht in sich aufgenommen hatte. Es gab ferner die illiberalen Einsprengsel in den gesellschaftlichen Strukturen, die obrigkeitsstaatlichen Reflexe sowie das nicht selten grimmig herausgekehrte Reaktionärswesen der gebietenden Machteliten, deren Vorrang um so unangefochtener geblieben war, als das deutsche Bürgertum zu keiner Zeit ein bürgerliches Selbstbewußtsein entwickelt hatte. Diese und manche weiteren Eigenheiten, hieß es auch, hätten zu einer Tradition sozialer Disziplin geführt, die sich immer schon in einer Art prätotalitärem Wartestand befunden habe. Rechnete man die hergebrachte Schwäche der politischen Institutionen des Landes hinzu, wurde auch die Anfälligkeit gerade der Deutschen für charismatische Führerfiguren begreiflich. Die Voraussetzung dafür sei freilich immer gewesen, daß die Kommandos, die von dorther kamen, der Vorzugsbewegung des deutschen Denkens folgten: der von aktuellen Nöten und mancherlei Einkreisungskomplexen genährten Zeitstimmung einerseits sowie der prinzipiellen Neigung andererseits, jede Tagesfrage zu einer Entscheidung über letzte Dinge zu erheben und alle Politik mit mythologischen Gehalten aufzuladen.
Zweifellos läßt sich ein Gutteil dieser und weiterer Überlegungen, die vor allem in der Debatte über den sogenannten deutschen Sonderweg zu anhaltenden Auseinandersetzungen geführt haben, mit der Erscheinung Hitlers in Verbindung bringen. Bedacht werden muß dabei aber, daß alle Geschichte weit offener ist, als es dem stets im nachhinein urteilenden Spurenleser erscheint. Zwangsläufig werden seine Einsichten nicht zuletzt von den Fragen bestimmt, die er ohne die Kenntnis des Ausgangs niemals stellen würde. Zuletzt bleibt zu berücksichtigen, daß vergleichbare Bewandtnisse, wenn auch mit sehr unterschiedlichem Gewicht, bei nahezu jeder Nation, zumindest des europäischen Kontinents, ausfindig zu machen wären. Ein tauglicher, ohne allen spekulativen Witz hergestellter Zusammenhang mit Hitler ist aus den deutschen Zuständen sicherlich nicht ableitbar, und allenfalls ließe sich sagen, daß die Widerstandskräfte gegen seinen Aufstieg durch die besondere Entwicklung des Landes gelähmt worden sind. Und unbeantwortet bleibt auch die daran anschließende Frage, warum der Nationalsozialismus soviel mehr an Härte und konzentrierter Inhumanität aufwies als die Mehrzahl der ihm verwandten extremistischen Bewegungen während der zwanziger und dreißiger Jahre.
Geht man der Sache genauer und diesseits aller allzu plausiblen Deutungsbefunde nach, zählt zu den deutschen Besonderheiten im engeren Sinne zweifellos der ganz und gar unvermutete Wirklichkeitssturz in die Niederlage vom Herbst
1918. Die Nation, die buchstäblich bis in die Tage des Waffenstillstands den Großmachttraum von 1870/71 mitsamt den »herrlichen Zeiten« geträumt hatte, denen sie entgegengehe, sah sich plötzlich einem Umbruch jedweder Lebensumstände gegenüber: einer Revolution, die von der breitesten Mehrheit nur als »Pöbelaufstand« wahrgenommen wurde und behaftet war mit einem »Ludergeruch«, der alle vertrauten, seit alters herrschenden Maßstäbe durcheinanderwarf; ferner dem Chaos auf den Straßen, anhaltenden Hungersnöten, nie gekannter Massenarbeitslosigkeit und sozialen Unruhen über ganze Provinzen hin. Hinzu kam der mit pompösem Friedensgerede in Szene gesetzte, tatsächlich aber von Heuchelei, Rachsucht und schikanöser Kurzsichtigkeit diktierte Friedensvertrag von Versailles mit der gewollten und auch so
Weitere Kostenlose Bücher