Der Untergang der Telestadt
»Was diesen Pitt bewogen haben mag, das Erbe der Fanny McCullan anzutreten, ihr in ihrem merkwürdigen Anliegen zu folgen, bleibt eigentlich, da er doch ganz anders motiviert sein mußte, unklar. Fest steht, das möchte ich vorausschicken, daß er bis zu seinem Tod – er ist sehr früh, so mit vierzig Jahren, schätze ich, verstorben – die kleine Kuppel in der TELESALT bewohnt hat. Ihr merkt, ich vermute dies nur, genau weiß ich es nicht, wie vieles, das ich heute abend noch zu berichten habe. Die Aufzeichnungen sind, wenn auch umfangreich, vom Inhalt her dürftig und spontan, haben längst keinen Tagebuchcharakter mehr. Pitt läßt sich breit über Ereignisse aus, die er für wesentlich hält, hat so zum Beispiel mit großer Ausführlichkeit anläßlich eines Besuches in Bergstadt die Gefahren des Marsches sehr überbetont, die Erlebnisse dort aber dürftig wiedergegeben. Die Fähigkeit zu abstrahieren geht ihm ab.
Diesen Besuch Bergstadts ordne ich etwa drei Jahre nach Fannys Tod ein. Ja, solche Lücken sind zu verzeichnen, man weiß nicht, wie Pitts Leben in den nicht beschriebenen Zeiträumen verlief. Das Schwärmen für seine Tiere, die manchmal seitenlang geschildert und sehr vermenschlicht werden und die an Arten und Anzahl offenbar beträchtlich zugenommen hatten, läßt vermuten, daß er neben dem notwendigen Lebensunterhalt den größten Teil seines Tuns diesen Geschöpfen gewidmet hat.
Pitt bestätigte in seinen Notizen aus Bergstadt, daß sich dort eine von der in Seestadt, zumindest im Zeitablauf, abweichende Entwicklung vollzogen hatte, allerdings eine, die offenbar auch schneller in eine Art Urgesellschaft zurückführte.
Die Leute in Bergstadt besaßen von Anfang an kaum Großtechnik, geschuldet einer ursprünglich sicher richtigen Konzentration der Mittel, waren also frühzeitig aufs manuelle Arbeiten angewiesen, darauf, dieser so unbarmherzigen, reichen Natur den Lebensunterhalt abzuringen. Und es geschah in Bergstadt für diese Verhältnisse das Merkwürdige der Evolution auf Neuerde vor Seestadt: die Entwicklung zum Matriarchat! Und ich glaube schon, daß diese eigenartige Krankheit, die Pitt einst durchlitten hat, ursächlich damit im Zusammenhang steht. Dieser Virus, oder was es auch immer sein mag…«
»Am Ende hat er euch befallen, hm…«, unterbrach Inge anzüglich und stipste Carlos leicht in die Rippen.
»Na!« rügte Bruno, aber er lächelte wie die anderen und ich auch.
»Also diese Krankheit«, fuhr ich fort, »führt zur Impotenz und damit – und unter den damaligen Verhältnissen erst recht – zu einer Art Entwertung der Männer und wohl zu einem Status, der sich in seiner Vollendung gegenwärtig bei den Neuirdischen zeigt, einer Umsortierung unter, na, gesellschaftserhaltendem Aspekt…«
»Hätte das nicht eher – zur Vielweiberei führen müssen?« fragte Bruno listig dazwischen.
Auf diese Frage war ich nicht gefaßt, sie überraschte mich. Ich hatte immer nur versucht, das Matriarchat zu begründen, die Krankheit und deren Folgen kamen mir dabei natürlich zupasse. Ehrlicherweise mußte ich aber eingestehen, daß Bruno so unrecht nicht hatte. Mir fiel auch nur eine Notbegründung ein: »Das wird wohl neben dem gesundheitlichen noch einem anderen Aspekt zuzuschreiben sein. Ich denke, daß Frauen eher mit den Füßen den Boden finden als wir Männer vor allem dann, wenn äußere Umstände es erfordern. Und auf Neuerde erforderten sie es von der ersten Stunde an.«
»Bravo, Sam«, sagte Friedrun lächelnd.
Das gab mir Mut, noch eins draufzusetzen: »Vielleicht wäre der
Menschheit in ihrer Geschichte viel Leid erspart geblieben, hätten die
Frauen mehr das Sagen gehabt.«
»Eben«, sagte Lisa bissig.
»Komm zur Sache, Sam«, mahnte Bruno. »Der Countdown läuft, die Kojen warten…«
»Es muß eine Zeit gegeben haben, zu der sich Pitt mehrere Tage in Seestadt aufgehalten hat. Aus seinen Aufzeichnungen liest man so etwas wie Sehnsucht nach Menschen heraus. Möglicherweise war dieses ein Zeitpunkt, der ihn wieder in seine Gesellschaft zurückgeführt hätte, wenn er von ihr verstanden worden wäre. Das Gegenteil trat nämlich ein, Pitt floh frustriert aus Seestadt. Anlaß muß wohl seine angelernte Lebensweise gewesen sein, mit der er in Widerspruch zu den Seestädtern geriet. Bislang hatte er das getan, was die Mutter ihm riet, was für den eigenen Lebensunterhalt wichtig war oder was einfach Freude bereitete. Ein junger Mann im noch arbeitsamen Seestadt fiel wohl
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