Der Untergang des Abendlandes
inneren Gefühl, nicht zum Verstand. Wenn das Ursymbol der antiken Seele fortan als der stoffliche Einzelkörper, das der abendländischen als der reine, unendliche Raum bezeichnet wird, so darf nie übersehen werden, daß Begriffe das nie zu Begreifende nicht darstellen, daß vielmehr die Wortklänge nur ein Bedeutungsgefühl davon erwecken können.
Der unendliche Raum ist das Ideal, welches die abendländische Seele immer wieder in ihrer Umwelt gesucht hat. Sie wollte es in ihr unmittelbar verwirklicht sehen, und dies erst gibt den unzähligen Raumtheorien der letzten Jahrhunderte jenseits aller vermeintlichen Resultate ihre tiefe Bedeutung als den Symptomen eines Weltgefühls. Inwiefern liegt die grenzenlose Ausgedehntheit allem Gegenständlichen zugrunde? Kaum ein zweites Problem ist so ernsthaft durchdacht worden, und fast hätte man glauben sollen, es hinge jede andre Weltfrage von dieser einen nach dem Wesen des Raumes ab. Und ist es nicht für uns in der Tat so? Warum hat denn niemand bemerkt, daß die gesamte Antike kein Wort darüber verlor, ja daß sie nicht einmal das Wort besaß, um dies Problem genau umschreiben zu können? [Weder im Griechischen noch im Latein; τόπος; (=
locus
) heißt Ort, Gegend, auch Stand im sozialen Sinne, χώρα (=
spatium
)
Abstand
(»zwischen«), Distanz, Rang, auch Grund und Boden (τὰ ἐκ τῆς χώρας die Feldfrüchte); τὸ κενόν (=
vacuum
) bezeichnet ganz unzweideutig einen
hohlen Körper
, wobei der Akzent auf der Umschließung liegt. In der Literatur der Kaiserzeit, welche das
magische
Raumgefühl durch antike Worte wiederzugeben sucht, bedient man sich hilfloser Ausdrücke wie ὁρατὸς τόπος (»Sinnenwelt«) oder
spatium inane
(»unendlicher Raum«, aber auch weite
Fläche
; die Wurzel des Wortes
spatium
bedeutet schwellen, fettwerden). In der echt antiken Literatur lag das Bedürfnis einer Umschreibung nicht vor, weil die Vorstellung völlig fehlte.] Warum schwiegen die großen Vorsokratiker? Übersahen sie etwa in ihrer Welt gerade das, was uns als das Rätsel aller Rätsel erscheint? Hätten wir nicht längst einsehen sollen, daß in diesem
Schweigen
gerade die Lösung lag? Wie kommt es, daß
unserem
tiefsten Gefühl nach »die Welt« nichts anderes ist als jener durch das Tiefenerlebnis ganz eigentlich geborene
Weltraum
, dessen erhabene Leere durch die in ihm verlorenen Fixsternsysteme noch einmal bestätigt wird? Hätte man
dies
Gefühl einer Welt einem antiken Denker auch nur begreiflich machen können? Man entdeckt plötzlich, daß dies »ewige Problem«, das Kant im Namen der Menschheit mit der Leidenschaft einer symbolischen Tat behandelte, ein
rein abendländisches
und im Geiste der andern Kulturen gar nicht vorhanden ist.
Was war es denn, was dem antiken Menschen, dessen Blick in seine Umwelt sicherlich nicht weniger klar war, als das Urproblem des gesamten Seins erschien? Das der ἀρχή des stofflichen Urgrundes aller sinnlich-greifbaren Dinge. Begreift man dies, so wird man dem Sinn der Tatsache nahekommen – nicht des Raumes, sondern der Frage, weshalb das Raumproblem mit schicksalhafter Notwendigkeit das der abendländischen Seele und dieser allein werden mußte. [Das liegt, bisher unerkannt, in dem berühmten Parallelenaxiom Euklids (»Durch einen Punkt ist zu einer Geraden nur eine Parallele möglich«), dem einzigen der antiken mathematischen Sätze, der unbewiesen blieb und der, wie wir heute wissen, unbeweisbar ist. Gerade das aber macht ihn zum Dogma gegenüber aller Erfahrung und
damit zum metaphysischen Mittelpunkt,
zum Träger jenes geometrischen Systems. Alles andre, Axiome wie Postulate, ist nur Vorbereitung oder Folge. Dieser einzige Satz ist für den antiken Geist notwendig und allgemeingültig – und
doch
nicht ableitbar. Was bedeutet das? Daß er ein
Symbol
ersten Ranges ist. Er enthält die Struktur der antiken Körperlichkeit. Gerade dies theoretisch schwächste Glied der antiken Geometrie, gegen das sich schon in hellenistischer Zeit Widerspruch erhob, offenbart ihre Seele, und gerade dieser der Alltagserfahrung selbstverständliche Satz war es, an den sich der Zweifel des aus körperlosen Raumfernen stammenden faustischen Zahlendenkens knüpfte. Es gehört zu den tiefsten Symptomen
unseres
Daseins, daß wir der euklidischen Geometrie nicht etwa
eine
, sondern eine
Mehrzahl
von andern gegenüberstellen, die für uns gleich wahr, gleich widerspruchslos sind. Die eigentliche Tendenz dieser
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