Der Untergang des Abendlandes
als
anti
euklidische Gruppe aufzufassenden Geometrien – in denen es durch einen Punkt zu einer Geraden keine, zwei oder unzählige Parallelen gibt – liegt darin, daß sie eben durch ihre Mehrzahl den körperlichen Sinn des Ausgedehnten, den Euklid durch seinen Grundsatz
heilig sprach,
gänzlich aufhoben, denn sie widerstrebt der Anschauung, die alles Körperliche fordert, alles rein Räumliche aber verneint. Die Frage, welche der drei nichteuklidischen Geometrien die »richtige«, der Wirklichkeit zugrunde liegende sei – obwohl selbst von Gauß ernsthaft geprüft – ist dem Weltgefühl nach antik, hätte also von einem Denker unserer Kultur nicht gestellt werden sollen. Sie verschließt den Blick in den wahren Tiefsinn jener Einsicht: Nicht in der Realität der einen oder andern, sondern in der Vielheit
gleichmäßig möglicher
Geometrien liegt das spezifisch abendländische Symbol. Erst durch die
Gruppe
von Raumstrukturen, in deren Fülle die antike Fassung einen bloßen Grenzfall bildet, wird der Rest von Körperhaftem im reinen Raumgefühl aufgelöst.] Gerade diese allmächtige Räumlichkeit, welche die Substanz aller Dinge in sich saugt, aus sich erzeugt – unser Eigentlichstes und Höchstes im Aspekt unseres Weltalls –, wird von der antiken Menschheit,
die nicht einmal das Wort und also den Begriff Raum kennt
, einstimmig als τὸ μὴ ὂν abgetan, als das, was
nicht da ist.
Man kann das Pathos dieser Verneinung gar nicht tief genug fassen. Die ganze Leidenschaft der antiken Seele grenzte durch sie symbolisch ab, was sie
nicht
als wirklich empfinden wollte, was nicht Ausdruck
ihres
Daseins sein durfte. Eine Welt von andrer Farbe liegt plötzlich vor unsern Augen da. Die antike Statue in ihrer prachtvollen Leibhaftigkeit, ganz Aufbau und ausdrucksvolle Fläche ohne irgend einen nichtkörperlichen Hintergedanken, enthielt für das antike Auge alles ohne Rest, was Wirklichkeit hieß. Das Stoffliche, sichtbar Begrenzte, Greifbare, unmittelbar Gegenwärtige – damit sind die Merkmale dieser Art von Ausdehnung erschöpft. Das antike Weltall, der
Kosmos,
die wohlgeordnete Menge aller nahen und vollkommen übersehbaren Dinge ist durch das körperliche Himmelsgewölbe abgeschlossen. Es gibt nicht mehr. Unser Bedürfnis, jenseits dieser Schale wieder »Raum« zu denken, fehlte dem antiken Weltgefühl vollständig. Die Stoiker haben sogar die Eigenschaften und Verhältnisse von Dingen für Körper erklärt. Für Chrysipp ist das göttliche Pneuma ein Körper; für Demokrit besteht das Sehen im Eindringen von stofflichen Teilchen des Gesehenen. Der Staat ist ein Körper, der aus der Summe aller Körper der Bürger besteht; das Recht kennt nur körperliche Personen und körperliche Sachen. Und endlich findet dies Gefühl seinen erhabensten Ausdruck in dem Steinkörper des antiken Tempels. Der fensterlose Innenraum wird von der Säulenstellung sorgfältig verhehlt; außen aber befindet sich keine einzige gerade Linie. Alle Treppenstufen haben eine leise Schwingung nach außen, und zwar jede von anderem Grad. Die Giebel, der Dachfirst, die Seiten sind geschwungen. Jede Säule hat eine leichte Schwellung; keine steht vollkommen senkrecht und hat den gleichen Abstand von der nächsten. Aber Schwellung, Neigung und Abstand ändern sich von den Ecken bis zur Seitenmitte in einem sorgfältig abgetönten Verhältnis. So bekommt der ganze Körper etwas geheimnisvoll um einen Mittelpunkt Kreisendes. Die Krümmungen sind so fein, daß sie dem Auge gewissermaßen nicht sichtbar, nur fühlbar sind. Eben dadurch aber wird die Tiefenrichtung aufgehoben. Der gotische Stil
strebt
, der dorische
schwingt
. Der Innenraum der Dome zieht mit Urgewalt empor und in die Ferne; der Tempel ist in majestätischer Ruhe hingelagert. Aber dasselbe gilt von der faustischen und der apollinischen Gottheit und nach ihrem Bilde von den Grundbegriffen der Physik. Den Prinzipien von Lage,
Stoff und Form
haben wir die der strebenden Bewegung,
Kraft und Masse
, entgegengestellt, und die letzte als das konstante Verhältnis von Kraft und Beschleunigung definiert, um beides endlich in die vollkommen raumhaften Elemente der
Kapazität und Intensität
zu verflüchtigen. Aus dieser Art, Wirklichkeit aufzufassen, mußte als herrschende Kunst die Instrumentalmusik der großen Meister des 18. Jahrhunderts hervorgehen, die einzige von allen Künsten, deren Formenwelt der Schauung des reinen Raumes innerlich verwandt ist. In ihr gibt es, den Bildsäulen
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